April 17, 2020 8:03 am

(Bildungs-)Verlierer und Extremismus

Die aktuelle „noch“ Ausnahmesituation hat in Österreich auf der Bildungsebene zu keinem Chaos geführt, weil Politik, Medien, PädagogInnen, Eltern und SchülerInnen durch einen nationalen und ressortübergreifenden Schulterschluss, rasch reagiert haben (das wünsche ich mir für Prävention seit 30 Jahren); und trotzdem zeigen sich große zukünftige Herausforderungen im Hinblick auf Bildungsgerechtigkeit, Chancengleichheit, sozialer In- oder Exklusion und Rekrutierung von Jugendlichen durch Extremisten.

Ein Beispiel aus Seminaren mit MultiplikatorInnen
Bei insgesamt 30 Tages- und Zweitagesseminaren zum Thema: „Radikalisierung: phänomen- und ideologieübergreifende Faktoren“ 2018 und 2019 wurden mir von TeilnehmerInnen – bereits zusammengefasst – über 300 Fragen gestellt; etwa 80 Prozent davon war zum Thema „Rechtsextremismus“!
Ein Ziel dieser Seminare war den TeilnehmerInnen zu vermitteln, dass Radikalisierung der Prozess zum Extremismus ist und phänomen- und ideologieübergreifend betrachtet werden muss:

a) Stellenwert der Ideologie

Als erste Gemeinsamkeit wird erkennbar, dass Hinwendungen zu extremistischen Strömungen keineswegs immer aus primär ideologischen Motiven erfolgen!

Rechtsextremismus
Zwar haben Jugendliche häufig fremdenfeindliche Orientierungen, aber eher diffuse Weltbilder und wenig Wissen zu politischen Positionen des organisierten Rechtsextremismus!
Islamismus
Neben hochideologisierten Anführern zeigen viele Mitglieder einen (zunächst) geringen Ideologisierungsgrad!

b) Desintegrations- und Krisenerfahrungen

Als Gemeinsamkeit zeichnen sich (unterschiedlich gelagerte) Desintegrations- und Krisenerfahrungen ab. Das heißt, eine mangelnde bzw. prekäre Integration in den Bildungs-, Ausbildungs- und Erwerbssektor und daraus resultierende Defizit- und Nichtzugehörigkeitserfahrungen!

Studien zeigen starke Problemverdichtungen in Form niedriger formaler Bildungsniveaus, einer erhöhten Zahl an Schulabbrüchen, von Schwierigkeiten bei Ausbildungs- und Berufsfindung sowie unsicherer oder fehlender Beschäftigungsverhältnisse; und damit verbunden, subjektiv so auch interpretierter Scheiterns- und Misserfolgserfahrungen!

Als gesicherter Befund gilt dagegen für beide Phänomene, dass biographische Krisen eine Relevanz für Hinwendungsprozesse besitzen. 

c) Spezifik der Jugendphase

Ein weiteres übergreifendes Charakteristikum ist, dass Hinwendungen zu diesen Strömungen oft während der Adoleszenz erfolgen. So erfolgt der Einstieg in rechtsextreme Gruppierungen typischerweise mit 13-14 Jahren; für den islamistischen Extremismus wird das Einstiegsalter mit ca. 15-19 Jahren angesetzt!

Motive in dieser Phase sind Suche nach Sinnstiftung und Orientierung im Leben; bewusst provokative Abgrenzung von der Elterngeneration; ausgeprägte Suche nach Abenteuer und Grenzerfahrungen; aber auch der Wunsch, sich gegen wahrgenommene Ungerechtigkeiten oder für eine bessere Gesellschaftsordnung zu engagieren – eine gerechtere, naturverträgliche, dem “Wesen“ des Menschen oder dem Willen Gottes entsprechende Ordnung.

d) Relevanz der Gruppe

Plausibles Attraktivitätsmoment ist das Versprechen dieser Gruppen, Teil einer besonders verbundenen Gemeinschaft Gleichgesinnter zu sein! Mit diesem Motiv korrespondieren Selbstinszenierungen dieser Gruppierungen als „Kameradschaft“ (Rechtsextremismus) bzw. „brotherhood“ | „sisterhood“ (Islamismus)!

Fazit

Erkennbar ist, dass bei Rekrutierungen Desintegrations-, Nichtanerkennungserfahrungen und Bildungsdefizite phänomenübergreifend in vielen Fällen als biographische Hintergrunderfahrungen präsent sind.

Damit korrespondiert, dass sich Gemeinschaftsversprechen – die extremistische Gruppierungen ihren Mitgliedern bieten – als ein zentrales Hinwendungsmotiv, Attraktivitätsmoment identifizieren lassen und sie so ihren Nachwuchs ködern.

Ein Beispiel aus Workshops mit Jugendlichen

Bei den Sozial-Trainings der letzten Monate war praktisch in jeder Klasse ein Schüler, der – wie sich in den Diskussionen zeigte – Radikalisierungstendenzen (Rechtsextremismus und Islamismus) vermuten lässt. Interessant war, dass die MitschülerInnen dem „forschen“ Auftreten dieser Schüler nichts entgegensetzen konnten, weil ihnen offenbar das religiöse und kulturelle Basiswissen dazu fehlte; warum auch immer. Radikalisierung ist ein komplexes Phänomen, das sehr unterschiedlich verlaufen kann, und vor allem Gruppenprozesse spielen dabei eine wichtige Rolle.

Narrative

Extremistische Ideologien zeichnen sich durch den Absolutheitsanspruch, Dogmatismus, die Unterteilung der Welt in Freund und Feind sowie die Verschwörungstheorien und Fanatismus aus. 

Kemmesies (2006, S. 11) definiert Extremismus als die Bereitschaft, die bestehenden Verhältnisse radikal und notfalls mit Gewalt zu verändern, um politische und/oder religiös motivierte totalitäre Ideologien umzusetzen. Extremistische Propaganda ist demnach der systematische Versuch, Wahrnehmungen zu gestalten, Gedanken und Gefühle zu manipulieren, um Verhalten dahingehend zu lenken, dass die Bereitschaft zur radikalen Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse im Sinne einer totalitären Ideologie gefördert wird. 

Die Begriffe „Gegennarrative“ oder „Alternative Narrative“ werden öfters als ein Sammelbegriff für verschiedene Initiativen und Projekte benutzt, die sowohl online als auch offline versuchen, die extremistischen Ideologien zu widerlegen und mit Alternativen in Frage zu stellen (Briggs, R. & Feve, S. 2013; Hemmigsen & Kastro 2017). 

Gegennarrative und alternative Narrative gegen Extremismus sind wichtig, damit solche irreführenden und polarisierenden Inhalte nicht unwidersprochen bleiben. Gerade junge Menschen sind besonders anfällig für extremistische Propaganda, deshalb braucht es aufklärende Angebote, welche sie ansprechen und erreichen. 

Die die von mir bevorzugten alternativen Narrative fokussieren sich auf alternative, positive Botschaften «für» anstatt «gegen» etwas, beinhalten positive Botschaften über das Zusammenleben, die Offenheit gegenüber anderen, die soziale Integration und über die Demokratie und liegen so auf der Vermittlung und Verbreitung von positiven und inklusiven Botschaften, Toleranz, Dialog und Verständigung.

Ausblick und Wünsche

Es liegt aktuell an uns als Gesellschaft, SchülerInnen und Jugendliche, die von Bildungsdefiziten, Chancenungleichheit und von sozialer Exklusion betroffen sind, die Hand auszustrecken und ihnen zu zeigen; wir lassen niemanden im Stich; auch nicht, wenn uns jemand braucht, um eine Hausaufgabe zu lösen!

Damit wird es als „alternatives Narrativ“ gelingen, durch Resilienz diese SchülerInnen und Jugendlichen gegenüber radikalistischen und extremistischen Botschaften zu stärken und – wenn wir authentisch, wertschätzend und respektvoll agieren – auch gelingen, Rekrutierungen zu verhindern.

Günther Ebenschweiger