5. Dezember 2020

Brief an das Christkind!

Liebes Christkind!

Ich weiß, du bist heuer sehr gefordert; die vielen arbeitslosen Menschen, die Existenzängste, die fehlenden Sozialkontakte und die Ungewissheit, wie geht es mit mir, mit uns, weiter.

Ich schreibe dir diesen längeren Brief, weil ich einen Wunsch habe:
„Bitte hilf mir, dass hunderttausende Kinder und Frauen von Gewalt verschont bleiben und dass es gelingt, für die Kinder und Frauen, die schon Opfer von Gewalt sind, eine rasche Lösung zu finden.

Ich schreibe dir meinen Wunsch, weil ich seit Jahrzehnten versuche, den Kindern und Frauen gegen häusliche und sexualisierte Gewalt zu helfen.

Was zwar für Mörder gilt, gilt leider nicht für mich als Mann „die Unschuldsvermutung!“. Wenn immer ich als Mann diese Gewalt gegen Kinder und Frauen thematisiere, werde ich als Mann und Täter „identifiziert“ und ich frage mich: „Warum dürfen Männer zwar zuschlagen, aber warum dürfen Männer nicht helfen“???

Häusliche Gewalt wird durch die aktuelle Kampagne, die mit viel medialem und finanziellen Aufwand einhergeht, wieder präsent; und liebes Christkind – leider auch zum Schaden von Opfern!

Du weißt, wenn wir als Menschen von häuslicher Gewalt reden, meinen wir Demütigungen, Drohungen, Schläge, Angst, seelische und körperliche Verletzungen, unermessliches Leid, Ohnmachtsgefühle, Posttraumatische Belastungsreaktionen und -störungen bis hin zu Traumatisierung!

Betroffen von dieser häuslichen und sexualisierten Gewalt sind:

  1. Frauen; zu rund 82 Prozent
  2. Männer; zu rund 18 Prozent
  3. Kinder zu 100 Prozent

Zum Schaden der Opfer:

Die aktuelle Kampagne bedient sich – wie in den Jahren zuvor – Opferbildern, d.h. weinende, geschlagene, traurige Frauen mit plakativen Texten.

Trigger lösen psychische Reaktionen aus

Diese Bilder lösen bei Opfern „Trigger“ aus. „Trigger“ sind psychische Reaktionen (Reize) bei den Betroffenen, welche zu extremer Angst und Panik bis hin zu real empfundener Todesangst führen und die Alltägliches wie Fahrten mit der Straßenbahn, Einkaufen, Arbeiten oder „einfach nur leben“ für traumatisierte Menschen unerträglich machen können. 

Bis vor rund fünf Jahren hätte ich mir – leider – auch nichts dabei gedacht. Aber nachdem ich das Buch „Familiäre Gewalt im Fokus“ gelesen und den Österreichischen Präventionskongress diesem Thema gewidmet habe, weiß ich, was diese Bilder bei Opfern „anrichten“. Bewusst geworden ist mir das dann noch konkret bei einem Gespräch mit einem Traumatherapeuten.

Diese Reize sind eben unter anderem auch „Opfer-Bilder“, die dem Erlebnis ähneln; zum Beispiel eine verletzte Frau. Auch Mimik, Gestik, Verhalten, Situationen, Töne, Klänge, Stimmlagen usw. können – in einem Wort zusammengefasst – Trigger sein. 

Opfer-Bilder – und der dazugehörende Text – verstärken Ohnmachtsgefühle

Ich hoffe, das ist verständlich: Ich sehe als Frau ein Bild, das ich sein könnte, und ich lese beispielsweise einen Text, der von mir Mut verlangt, den ich aus vielen Gründen zumindest allein nicht habe und ich denke an meine Verantwortung als Frau, als Mutter, als jemand der ökonomisch und emotional abhängig ist, eine Frau, die bisher durch das soziale Umfeld statt Verständnis, viele Vorwürfe, Verniedlichung, bis hin zur Isolation erlebt hat und aktuell erlebe.

Mein Ohnmachtsgefühl versagt zu haben, eben nicht die Frau sein zu können, wie das der Werbetext mir versucht einzureden, bringt mich dazu, mich noch schuldiger zu fühlen, mich noch mehr in der Erziehung, im Haushalt, in der Liebe anzustrengen, um meinem gewalttätigen Mann zu gefallen und somit Gewalt zu reduzieren.

Wir nennen das schlicht und ergreifend „Sekundärviktimisierung“. D.h. ich werde als Opfer, durch dieses Foto, durch diesen Text, durch diese Werbung, erneut Opfer!

Liebes Christkind!

Ich versuche seit 35 Jahren Kindern und Frauen gegen Gewalt zu helfen, leider ist mir das bis auf wenige Ausnahmen nicht gelungen; eben, weil ich ein Mann bin. 

Da hat auch meine Ausbildung zur „StoP-Fachkraft für sozialraumorientierte Prävention und Intervention bei Partnergewalt“ an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg (in Europa sind es vier, in Österreich bin ich der einzige Mann) oder auch Anträge zur Förderung von wirksamen Präventionsprojekten gegen Gewalt an Kindern und Frauen nichts geholfen.

Die einzige Frauenorganisation, die seit Jahren mit mir als Mann dieses Thema aktiv bei Kindern, PädagogInnen und Eltern umsetzt, sind die Soroptimistinnen „Club Fürstenfeld AquVin“ und dafür danke ich namens der hunderten gestärkten und geschützten Kinder und Frauen.

Ein paar persönliche Mann-Momente:

  • Ich moderiere einen Elternabend von „Mein Körper gehört mir“, 220 Eltern sind anwesend, ein emotionaler Abend mit viel Applaus und positivem Feedback. Die Eltern sind schon weg, ich rede noch mit unserem Spielerpaar, dann gehe auch ich und treffe am Eingang eine weinende Frau, die mich ersucht, ihr zuzuhören. Sie schildert mir, dass sie einen Mann kennt, der seit sicherlich zwanzig Jahren Kinder missbraucht. Sie schämt sich, nicht den Mut gefunden zu haben, das schon früher zu sagen, aber heute, jetzt, hat sie den Mut und bittet mich um Hilfe!
  • Ich bin gerade in Frankfurt bei einer Fortbildung, als sich mein Handy „meldet“. Ich rufe zurück und am anderen Ende der Leitung ist ein 17jähriges Mädchen aus der Steiermark, das mir weinend erzählt, dass sie vor Tagen vergewaltigt worden ist, sie schämt sich eine Anzeige zu erstatten, ihre Mutter hätte ihr meine Nummer gegeben und bittet mich um Hilfe.
  • Eine Frau und Mutter von zwei Kindern ruft mich an, sie sagt, sie hätte mich vor einem Jahr bei einem Elternabend erlebt und nachdem ich allen meine Nummer gegeben und sie ermutigt hätte anzurufen, rufe sie mich heute an. Sie entschuldigt sich, dass sie mich mit ihren Problemen belästige, aber ihr Mann sei seit Jahren ein massiver Gewalttäter und besitze auch eine Menge Schusswaffen und heute hätte sie den Mut gefunden, mich um Hilfe zu bitten.
  • In einer Schule fällt mir bei einer systemischen Mobbingprävention und -intervention ein Mädchen auf, dass immer wieder zu weinen beginnt. Ich frage sie, ob sie mit mir sprechen möchte und sie bejaht das. Die Klassenlehrerin, die bei diesem Gespräch auch dabei sein darf, und ich erfahren, dass sie Zeit ihres Lebens durch die Gewalt ihres Vaters Angst gehabt hätte und vom Kindergarten weg sich immer davor gefürchtet habe, ob ihre Mama und sie diesen Tag noch lebend überstehen würden. Mittlerweile sind sie vom Vater getrennt und beide in psychologischer Behandlung. Wie viele andere Opfer auch, entschuldigt sich das Mädchen bei uns beiden, uns das „anzutun“ und bedankt sich für unser Zuhören, unsere Geduld und unser Verständnis.
  • In einer anderen Schule erzählt am zweiten Tag meines präventiven Einsatzes ein Mädchen – wie sie sagt, ermutigt durch meine Arbeit – der anwesenden Schulsozialarbeiterin, dass ihre drei Geschwister und sie seit Jahren massive Gewalt zuhause erfahren und zeigt auch ihre massiven Verletzungen. Nach meinem Einsatz, müssen alle vier Kinder den Eltern wegen Gefahr im Verzug abgenommen worden.
  • Ich könnte aus den letzten zwanzig Jahren noch sehr viele Beispiele erzählen, dass Kinder – und nicht nur Mädchen – und Frauen keinen Unterschied dabei machen, dass ich ein Mann bin. Wesentlich für sie alle ist offensichtlich; ich bin kompetent, ich bin vor Ort, sie vertrauen mir, ich höre aktiv zu, ich nehme mir – kostenlos – Zeit für ihre menschlichen Bedürfnisse und suche nach Lösungen; und zwar gemeinsam nach Absprache mit den Betroffenen.

Liebes Christkind!

Nun konkret meine Bitte!

  • Bitte vermittle den EntscheidungsträgerInnen in Politik, Wirtschaft und Medien, dass Gewalt zuhause – wie es so schön heißt – ein gesamtgesellschaftliches Thema ist, das nur geschlechts- und ressortübergreifend wirksam gelöst werden kann;
  • dass Kinder zu hundert (100) Prozent davon betroffen sind und ihre emotionalen, kognitiven, körperlichen und seelischen Verletzungen als direkte oder indirekte Opfer als ZeugInnen, sie ein Leben lang schädigen bzw. sie aus den „erlernten“ Mustern wieder zu Opfern und Tätern werden;
  • dass diese Gewaltphänomene Österreich jährlich rund zwei Milliarden Euro kosten; abgesehen vom immensen Leid, dass Kinder und Frauen über alle gesellschaftliche Schichten hinweg und oftmals lebenslang erfahren;
  • dass wir nicht nur Interventionsstellen brauchen, wenn Kinder und Frauen schon Opfer geworden sind, sondern dass wir genauso dringend auch „Präventionszentren“ brauchen, die vor Ort, niederschwellig und vertrauensvoll Rat, Hilfe und Begleitung anbieten und
  • dass wir Informations- und Aufklärungsmaßnahmen setzen müssen, um dem wichtigen sozialen Umfeld – das sind Eltern, Großeltern, FreundInnen, ArbeitskollegInnen und ganz besonders NachbarInnen – Lösungsansätze vermitteln und auch zeigen, wie sie auf ihre eigenen emotionalen Reaktionen gut reagieren können!

Liebes Christkind!

Entschuldige, denn ich weiß, das ist ziemlich viel verlangt, aber ein gewaltfreies Aufwachsen und Leben sowie die Stärkung und der Schutz von Kindern und Frauen sind mir seit Jahrzehnten ein wichtiges persönliches Anliegen.

Ein positives Beispiel für dich zum Schluss

Du bist viel unterwegs und vielleicht findest du ja auch in Österreich einen Menschen, eine Firma oder eine Organisation, die ihr großes Herz – wie man sagt – auch am richtigen Fleck sitzen hat.
In Deutschland ist ein Mann vom Sagen zum Tun gekommen. Er hat es nach seinen Aussagen durch Fleiß und auch durch Glück geschafft, reich und zufrieden zu sein. Er könne sein Geld nicht ins Grab mitnehmen, daher werde er einen Teil seines Geldes in Prävention investieren, um auch in Zukunft mitzuhelfen, dass Kinder und Frauen nicht Opfer von Gewalt werden!

Mein sehnlichster Wunsch

Ich wünsche mir, dass es dir gelingt, mit himmlischer Überzeugung wach- und aufzurütteln, damit mein sehnlichster Wunsch für die hunderttausenden Kinder und Frauen in Erfüllung geht. 

Mir ist bewusst, das wird dauern – und vielleicht werde ich die ganze Selbstwirksamkeit nicht mehr erleben – aber es ist ein schönes, ein warmes, ein wohliges, ein freudiges, insgesamt ein starkes Gefühl, helfen zu können; und auch als Mann zu dürfen!

LG
Günther Ebenschweiger