25. August 2019

Die “schuldige” Gesellschaft? Notruf- statt Todstell-Reflex!

„Ein Papa ruft mich an und erklärt mir verzweifelt, dass seine Tochter als 12jährige Schülerin massiv von (Cyber-)Mobbing betroffen ist und alle Versuche die Situation zu verbessern seitens der Schule bisher gescheitert sind!“
„Ich schlage ihm ein „Sozial-Training“ – Reflexionsgespräche vorher, mittendrin und nachher mit der zuständigen Klassenlehrerin, zwei Schulvormittage mit der Klasse und eine Lehrerfortbildung zum Thema „Mobbing verstehen“ – als wirksamen „Mehr-Ebenen-Ansatz“ vor!“

Die Reaktion der Leitung – und das ist kein Einzelfall – lässt nicht lange auf sich warten und lautet: „Wir lösen das selbst!“

„Zwei Klassenvorstände bitten mich zu den Themen „Cybermobbing“ und „Rechtsradikalismus“ um Hilfe. Es ist – so zeigt das nachfolgende persönliche Gespräch – 5 vor 12, oder wie wir bei der Polizei sagen würden „Gefahr im Verzuge“. Es sind aber keine Finanzen für einen außerordentlichen präventiven Einsatz da, da das Budget ja schon im Vorjahr beschlossen worden ist. Die Schulleiterin resigniert und verweist die beiden betroffenen KollegInnen auf das Jahr 2020.“

Dieser „Todstell-Reflex“ ist mittlerweile fast zum Standard in vielen Bereichen geworden. 

Die Gründe dafür finden sich aber nicht direkt in den Kindergärten, Schulen, Institutionen, Organisationen, Behörden, Firmen, sondern ganz woanders!

Vorgesetzte Stellen und Behörden
Vorgesetzte Stellen und Behörden sind eingebettet in feste Strukturen; und was nicht sein darf, darf nicht sein. Um nicht selbst „zum Schuldigen erklärt zu werden“, um sich nicht selbst rechtfertigen zu müssen, um sich nicht selbst Versäumnisse einzugestehen, muss ein(e) andere(r) Schuldige(r) her!

Eine(n) Schuldige(n) finden
Zentral in unserer Gesellschaft ist daher mittlerweile die Haltung, einerseits sofort nach einer(m) Schuldigen zu suchen – und ganz bestimmt auch eine(n) zu finden – und auch auf konstruktive Kritik mit starker Gegenkritik zu reagieren. 
Aktives Zuhören, sich Zeit für Entscheidungen zu lassen, Verantwortung wahrzunehmen ist out! Ist auch deshalb out, weil unsere Gesellschaft rasche „Entscheidungen“ – auch wenn sie keine Lösung darstellen – wünscht; oder besser gesagt darauf konditioniert wurde!
Niemand will selbst die | der Schuldige sein oder wie ein Spruch sagt „den schwarzen Peter zugesteckt bekommen“. Daher weisen alle reflexartig alle Schuld von sich und zumeist wird der, der die Wahrheit benennt – und da spielt es letztlich keine Rolle ob Leitung, TrainerIn, AusbildnerIn, PädagogIn –, zur | zum Schuldigen erklärt. 

Was lernen wir alle daraus? Kopf in den Sand zu stecken – sich Tod zu stellen – um die zumeist geharnischte Gegenkritik, Gegenvorwürfe, aber auch zusätzlichen Ärger zu vermeiden und die eigene Hilflosigkeit und Überforderung zu verbergen.

In der Öffentlichkeit vorgeführt zu werden
Ein weiterer Grund dieses „Todstell-Reflexes“ allerdings ist, dann nicht in der Öffentlichkeit vorgeführt zu werden.

Meine persönliche Wahrnehmung ist hier klar und einfach; Menschen – egal ob Kinder, Jugendliche, Eltern, MultiplikatorInnen, LeiterInnen – fürchten sich davor, dass Geschehnisse bekannt und sie dann mit negativen, reißerischen Schlagzeilen in der Öffentlichkeit „vorgeführt“ werden.
Die Reaktionen auf diese Schlagzeilen durch weitere EntscheidungsträgerInnen sind dann zumeist nicht lösungsorientiert, sondern entsprechen eher dem Spiel: „Wir haben alles getan, die | der Schuldige sitzt vor Ort“!

Und dazu kommen dann noch die vielen verzichtbaren Kommentare auf solche Artikel und auf den Sozialen Medien – unfähig, unsozial, fehleranfällig, inkompetent, und was den „Textschreiberlingen“ so alles einfällt – die dann den „Todstell-Reflex“ noch unterstützen.

Ein theoretisches Beispiel:
In einem Park passiert eine Straftat; z.B. ein sexueller Übergriff. Jemand stellt – gut gemeint – eine Tafel am Zugang zum Park auf, um vor möglichen Übergriffen zu warnen. Diese öffentliche Warnung wirkt; in kurzer Zeit besucht aus Angst niemand mehr diesen Park. 
Genau das passiert heute durch die täglichen negativen und teilweise reißerischen Mitteilungen über Straftaten; eine irrationale Angst hat sich ausgebreitet
!

Was brauchen wir?

EntscheidungsträgerInnen
EntscheidungsträgerInnen müss(t)en wissen, dass es nicht zwingend erforderlich ist, sofort – also von einem Moment auf den anderen – eine Meinung, eine Stellungnahme und vor allem keine, die gerade dem Mainstream entspricht, abzugeben, sondern zuallererst die Betroffenen zu kontaktieren; und zwar wertfrei, wertschätzend, die Situation vor Ort berücksichtigend und lösungsorientiert.

EntscheidungsträgerInnen müss(t)en auch wissen, dass sie es auch sind, die mit ihrer neutralen Haltung bei den MitarbeiterInnen, entscheidend zur Verringerung des „Todstell-Reflexes“ beitragen könn(t)en.

Medien
Zuallererst müss(t)en Medien – egal welche – verstehen lernen, was sie mit ihren negativen und reißerischen Schlagzeilen und Artikeln bewirken; ganz einfach Angst als schleichender Prozess in der Bevölkerung!

Medien müss(t)en lernen, dass es auch im Feld der Meinungsbildung ein Gleichgewicht zwischen guten und schlechten Nachrichten und | oder, dass kritische Nachrichten auch immer einen wertfreien, auf ExpertInnen beruhenden Lösungsansatz braucht und sie sollten berücksichtigen, dass die Bevölkerung heute mehr denn je, regelmäßige Inputs von ExpertInnen zu Lebenskompetenzen benötigen.

Mut
Um zu verhindern, dass Kinder und Jugendliche am Körper und | oder an der Seele verletzt werden und jenen, die schon Opfer sind, helfen zu können, brauchen wir auf allen Ebenen wieder mehr Mut uns einzugestehen, dass wir die vielen komplexen Themen nur gemeinsam lösen können. Jemanden die Schuld zu geben, ist weder professionell noch lösungsorientiert.

Ich würde mir daher für die jungen Menschen und ihre Unversehrtheit wünschen, dass wir nicht nach Schuldigen suchen und die Medien sich nicht mit negativen Schlagzeilen schmücken, sondern wir jene Menschen und Organisationen vor den Vorhang holen, die den Mut haben sich einzugestehen, überfordert zu sein, hilflos zu sein, Unterstützung zu brauchen, das auch öffentlich bekennen und bei diesen komplexen Themen gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

Nicht der alles begrabende „Todstell-Reflex“, sondern der mutige und eingreifende „Notruf-Reflex“ muss in Zukunft ein Maßstab für alle sein, die Unterstützung benötigen!

Günther Ebenschweiger