6. Dezember 2019

Bildung: angezählt oder schon k.o.?

Mit PISA ist Bildung wieder in aller Munde. Ich vergleiche die aktuelle Situation mit einem Boxkampf; sagen wir mal 9. Runde. Einer der beiden Boxer ist angezählt und droht k.o. zu gehen.

Wenn er sich nicht nur auf seine Muskelkraft, sondern auch auf seine Beweglichkeit, seine Deckung, seine Kondition, seine Motivation und Strategie besinnt – also alles, was zum Boxkampf und Siegen dazugehört – und somit ganzheitlich denkt, fühlt und handelt, ist durchaus noch der Sieg möglich.

Sozialisation
Für unsere Bildung bedeutet das, dass sich in den letzten zwei Jahrzehnten so ziemlich alles, was man zur Bildung und für die Zukunft braucht, geändert hat. In der Vergangenheit gab es das Duo Erziehung und Schule, das Bildung bedeutete. Seit über einem Jahrzehnt gibt es ein weiteres wirkmächtiges Duo – Medien und Peergroup – das als informelle Bildung, die formale Bildung massiv beeinflusst. Das heißt, wir haben es mit einem sozialisations-, generations- und ressortübergreifenden Prozess zu tun und können uns daher nicht mehr nur auf Bildung im Sinne von Schule stützen, sondern brauchen einen gänzlich anderen mehrdimensionalen und ganzheitlichen Ansatz.

Was ist überhaupt Bildung?
Es gibt kaum einen Begriff, der in unterschiedlichen Zusammensetzungen so universell eingesetzt werden kann – und wird – wie der Begriff Bildung.

Nach einem angemessenen Bildungsideal zu fragen, heißt danach zu suchen, was wir als Menschen können und wie wir handeln sollen, um Gegenwart und Zukunft zu bewältigen. Gerade in Zeiten rascher gesellschaftlicher Veränderung wird diese Frage immer wieder gestellt und von AkteurInnen, etwa aus Politik, Pädagogik, Erziehung, Soziales, Gesundheit, Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, wird nach Antworten gesucht.

Bildung steht deshalb auch nicht im Gegensatz zu Erziehung, sondern ist eingelagert in den alltäglichen Prozess des Aufwachsens, um die notwendige Anpassung an die Gesellschaft und die Verselbständigung des Einzelnen gegenüber zukünftigen Erwartungen zu lernen. 

Wer hier nur Gegensätze oder zumindest keine Gemeinsamkeiten erkennt, hat Bildung als Erwartung an unser Verhalten und als Kern der notwendigen sozialen, kognitiven, politischen, moralischen und emotionalen Kompetenzen nicht richtig verstanden. 

Den Menschen zum Menschen begaben
(Zitat aus einem Vortrag, den Prof. Konrad Paul Liessmann 2018 an der Fachhochschule St. Gallen gehalten hat)

«Bildung hat mit der Entwicklung von Persönlichkeiten zu tun, sie hat mit der Vermittlung jener geistigen Fundamente zu tun, auf denen unsere Zivilisation aufbaut […]. Alle Kenntnisse, alle Fähigkeiten, die im Zuge eines Bildungsprozesses angeeignet, erworben, geübt und weiterentwickelt werden, dienen nicht nur der Eingliederung eines Menschen in eine vorgegebene Welt der Technik und Ökonomie, sondern sind auch Vorbedingung für die Formung einer mündigen Person. Letztlich bleibt Bildung, nach einem Wort des zu Unrecht vergessenen kritischen Pädagogen Heinz-Joachim Heydorn, der Versuch, den Menschen zum Menschen zu begaben, ein Versuch, der gegen alle Formen des einseitigen Trainings, der berufsorientierten Qualifikation und marktorientierten Talentpflege das unverstellte Menschsein im Auge hat, ein Versuch, von dem nicht gesagt werden kann, ob er überhaupt gelingen kann. Aber es ist der einzige Versuch, der einen Versuch wert ist.»

PädagogInnen
Dass unser Boxer noch nicht k.o. gegangen ist, ist der beinahe unendlichen Leidensfähigkeit von KindergärtnerInnen, PädagogInnen; LeiterInnen und auch Eltern geschuldet.

Durch das Quartett – Eltern, Schule, Medien, Peergroup – hat sich Erziehung nicht nur geändert, sondern auch verschoben. Einige Untersuchungen meinen, dass Kinder bis zu 30 Prozent und Jugendliche bis zu 20 Prozent weniger Achtsamkeit im Elternhaus erfahren. 

Das bedeutet, dieses weniger an Achtsamkeit macht sich zuerst im Kindergarten und in der Schule und dann in der Gesellschaft auf vielfältige Weise negativ bemerkbar. Um auf unseren Boxer zurückzukommen heißt das, der Gegner traktiert jetzt unseren Boxer plötzlich mit Kickboxen; darauf ist dieser aber nicht vorbereitet und geschult.

Was bleibt um zu Überleben, ist pure Improvisation und das führt dauerhaft zu massiven und dauerhaften Erschöpfungszuständen bei den ProfessionistInnen und ziemlich sicher zum K.O. unseres Boxers.

Das heißt für mich, verantwortungsvoll den Resetknopf drücken, wie beim Projektmanagement die aktuelle Situation neu bewerten und gemeinsam – also ressortübergreifend sowie ganzheitlich – neu definieren; wenn nicht, werden wir die Runde 12 nicht erreichen, sondern Bildung wird vorher k.o. gehen! 

Mein kommender Blog: 
Ist Macht- und Informations-Ungleichgewicht mitverantwortlich für immer mehr Gewalt?

Bleiben Sie dran!
Günther Ebenschweiger