17. Mai 2020
Kindliche Gewaltopfer
Pressestatement, Holger Münch
Präsident des deutschen Bundeskriminalamtes
In Zeiten, in denen Corona-bedingt soziale Distanz gefordert ist, stehen die Themen innerfamiliäre häusliche Gewalt und Gewalt gegen Kinder verstärkt in der öffentlichen Aufmerksamkeit: Das ist richtig und wichtig, denn Straftaten gegen Kinder gehen uns alle an.
Zunächst möchte ich Ihnen aber die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) 2019 in den Bereichen Tötungsdelikte, Kindesmisshandlung, sexuellen Gewalt gegen Kinder sowie Kinderpornografie darstellen.
Dabei ist zu beachten, dass die PKS nur das Hellfeld der Kriminalität dokumentiert:
Viele Taten bleiben unentdeckt, vor allem dann, wenn die Täter – wie sehr häufig der Fall – aus dem sozialen Nahbereich der Opfer stammen.
Polizeiliche deutsche Kriminalstatistik 2019
Im vergangenen Jahr wurden
112 Kinder Opfer eines vollendeten Tötungsdelikts; der überwiegende Teil der Opfer, nämlich 93 Kinder, war jünger als sechs Jahre.
4.055 Kinder wurden Opfer einer vollendeten Misshandlung;
15.936 Kinder wurden Opfer von sexualisierter Gewalt; d.h. die Opferzahlen sind schon seit Jahren auf einem konstant hohen Niveau und sogar um 9 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen.
Das bedeutet, dass 2019 jeden Tag durchschnittlich 43 Kinder Opfer von sexualisierter Gewalt wurden.
Gestiegen sind auch die Zahl der Opfer sexuellen Missbrauchs von 14.410 in 2018 auf 15.701 (+9%) sowie die Zahl der Opfer von Vergewaltigung und Nötigung von 196 in 2018 auf 235 (+20%);
im Jahr 2019 wurden 12.262 Fälle von Herstellung, Besitz und Verbreitung kinderpornografischer Schriften in der PKS erfasst.
Das entspricht einem Zuwachs von fast 65 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und die Fallzahlen des strafbaren Einwirkens auf Kinder mit technologischen Mitteln sind mit 3.264 Fällen in 2019 im Vergleich zum Vorjahr (2018: 2.439) um fast 34 Prozent signifikant gestiegen.
Einen Großteil dieser Fälle macht seit einigen Jahren das sogenannte Cybergrooming aus. Beim Cybergrooming werden Kinder im Netz gezielt zur Anbahnung sexueller Interaktionen angesprochen; beispielsweise über sexuelle Chatgespräche, den Austausch von Bildern oder per Videochat.
Auffällig ist, dass unter den Tatverdächtigen ein steigender Anteil von jugendlichen Tatverdächtigen zu verzeichnen ist.
Häusliche Gewalt in Zusammenhang mit Corona
Eine Zunahme von Gewalt oder Missbrauch im innerfamiliären häuslichen Umfeld lässt sich in polizeilichen Hellfelddaten aktuell nicht erkennen. Allerdings ist diese Datenlage mit großer Vorsicht zu interpretieren: Das Dunkelfeld ist groß und wir wissen nicht, ob die Corona-Beschränkungen zu einer weiteren Vergrößerung führen.
Corona ist eine Ausnahmesituation für alle Familien:
Die räumliche Beengtheit, Existenzängste und familiäre Spannungen können dazu beitragen, dass Konflikte zu Hause eskalieren.
Wenn Täter und Opfer kontinuierlich daheim sind, bestehen für die Kinder nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten unbemerkt auf Gewalterfahrungen aufmerksam zu machen, Anzeige zu erstatten und Hilfe von außen zu erhalten.
Zudem fehlen die normalerweise entscheidenden Hinweis und Unterstützungsgeber im sozialen Umfeld der Kinder, wie beispielsweise Erzieher, Lehrer oder Kinderärzte.
Es ist also nicht auszuschließen, dass die physische Isolation und andere Stressfaktoren im Zusammenhang mit Corona zu einer Erhöhung von Gewaltdelikten (darunter auch sexualisierte Gewalt/sexueller Missbrauch) führen.
Neben einer Steigerung des Konsums von legalen oder illegalen Formen (Kinderpornografie) von Pornografie könnte es auch zu einem Anstieg von digitalen Sexualdelikten kommen (bspw. Versenden von sog. Dickpics).
Die aktuell umfangreiche Nutzung des Internets bzw. von digitaler Kommunikation geht insbesondere bei Jugendlichen mit einem erhöhten Risiko einher, Opfer von Cybermobbing oder Cybergrooming zu werden:
Beide Risiken werden dadurch verstärkt, dass aufgrund der sozialen Isolation möglicherweise eine erhöhte Bereitschaft besteht, persönliche Informationen, Sorgen oder Wünsche über digitale Wege mitzuteilen. Das geht dann mit der erhöhten Gefahr eines Missbrauchs dieser Offenheit für Mobbing oder das Erpressen sexueller Interaktion einher.
Umso größer ist die Bedeutung von präventiven Maßnahmen und erhöhten Unterstützungsleistungen für Kinder, wie beispielsweise das Kommunizieren von Präventionsbotschaften im Bereich der sexualisierten Gewalt über Rundfunk, Fernsehen sowie jugendaffine Social Media Kanäle und das Bekanntmachen von Hilfsangeboten, die im Internet oder telefonisch wahrgenommen werden können.
Es ist wichtig, dass das soziale Umfeld trotz physischer Distanz aufmerksam bleibt und sich bei einem Verdacht an die Polizei oder an Beratungsstellen und das Jugendamt wendet.
Fazit
Die meisten Straftaten gegen Kinder – Misshandlungen, sexueller Missbrauch – geschehen hinter verschlossenen Türen, fernab von der öffentlichen Wahrnehmung.
Deshalb gilt es wachsam zu sein und Verantwortung zu übernehmen. Jeder, der auf strafbare Handlungen an Kindern aufmerksam wird, sollte nicht zögern und aktiv werden!
Unsere Kinder müssen wir für mögliche Gefahren sensibilisieren und zu einem sicherheitsbewussten Umgang mit dem Internet anleiten. Auch hierbei ist jeder Einzelne von uns gefordert.
Vielen Dank!
Holger Münch