2. Mai 2020

Verantwortungs-Diffusion

Aus den Augen, aus dem Sinn

Diese Redensart ist mir gestern mehrfach eingefallen! Gestern war ein besonderer Tag; der 1. Mai ein Feiertag, ein schöner sonniger Tag und der Tag an dem die „Normalität“ begann – leider nicht so, wie zumindest ich mir das vorgestellt hatte.

Ich unternahm wie viele andere ÖsterreicherInnen einen ausgedehnten Spaziergang. Hinaus ins Freie, hinaus aus dem „eingesperrt sein“, hinaus in die neue alte Freiheit; doch was ich sah, war erschreckend, war beängstigend.

Die Plätze wurden „erobert“: Die Mehrheit der jungen Menschen ohne Masken und ohne Abstand; die Bänke, die Tische waren gedrängt voll und auf den Spielplätzen wurde vieles gespielt, auch Fußball; auch hier mit vollem Körperkontakt und ohne Masken.

Ich blieb einmal stehen, schloss die Augen und fragte mich; war covid-19 nur ein Alptraum, denn die aktuelle Situationen in der Öffentlichkeit, das Verhalten der Menschen die ich sah, waren – bis auf wenige Ausnahmen – so wie immer. Als ich die Augen öffnete war wieder schnell klar, es ist ein realer Alptraum, der offenbar für viele schon am ersten Tag der „neuen Realität“ vergessen war.

Beängstigend für mich war und ist aber nicht nur dieses sorglose Erleben einer sehr kritischen Situation, sondern insbesondere die Tatsache, dass für die Freiheit, für den Individualismus, die wir uns als Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten „hart erarbeitet“ haben, ganz offenbar bei vielen die Reife dafür fehlt; und damit meine ich uns alle!

Individualismus und alles was dazugehört, braucht Reflexionsvermögen und -bereitschaft sowie Selbstkontrolle; um nicht zu sagen Selbstdisziplin! 

Mehr Reife bedeutet nicht nur das Erhalten von Individualität, sondern vielmehr auch das Verständnis eines respektvollen Miteinanders, die Förderung einer nachhaltigen Lebensqualität, ein gesundes Selbst-Bewusstsein und eine dankbare Zufriedenheit. Das ideale Ziel, dem wir uns Schritt für Schritt annähern sollte, wäre eine möglichst gute Lebensqualität für möglichst viele.

Die Reife einer Gesellschaft bemisst sich daher ganz wesentlich daran, wie ihre Individuen miteinander umgehen. 

Der Wert, der dieses reife Miteinander verkörpert, heißt Respekt und zum respektvollen Miteinander gehört die Bereitschaft Eigenverantwortung zu übernehmen; und das habe ich am gestrigen besonderen Tag vielfach vermisst!

Ethik oder die 101. Kuh

Eingefallen ist mir dazu die folgende Geschichte:
In einem Bergdorf gibt es 100 Bauern, die vereinbart haben, dass jeder von ihnen täglich nur eine Kuh auf die Almwiese schicken darf, um diese nicht zu Oberweiden und zu schädigen. Das funktioniert sehr gut über einen längeren Zeitraum. 

Eines Tages jedoch sieht ein Bauer, wie sein Nachbar nicht nur eine Kuh, sondern zwei Kühe in die vorbeiziehende Herde schiebt. Er traut seinen Augen nicht, möchte aber ganz sicher gehen. Also steht er am nächsten Morgen um dieselbe Zeit wieder am Fenster und siehe da: Wiederum sind es zwei Kühe, die der Nachbar aus dem Stall lässt. 

Der Bauer ist empört – aber nicht lange. 

Sehr bald nämlich kommt ihm eine Idee: Wenn das mit den zwei Kühen bisher bei meinem Nachbarn gutgegangen ist, dann wird es sicher auch nichts ausmachen, wenn ich täglich eine zweite Kuh auf die Almwiese schicke“. Gedacht, getan – und so sind es nun 102 Kühe, die dieselbe Futtermenge beanspruchen. 

Natürlich bleibt das nicht lange unbemerkt und jede Woche gibt es mehr Kühe auf der Almwiese, die für 100 reichlich Nahrung spendete, aber die 120, 130 oder gar 150 Tiere zugrunde richten. 

Und so bricht nach einer gewissen Zeit ein System zusammen, dessen Basis Anständigkeit, Ehrlichkeit und Vertrauen waren. 

Ethik ist also ganz einfach: 
Es ist nicht die Menge der Kühe, die die Alm ruiniert, sondern die 101. Kuh. Ein einzelner, der das System unterwandert (und nicht sofort gebremst wird!), genügt, um es zusammenbrechen zu lassen.

Quelle: 
Sonntagszeitung Villmergen (Ch) 23.12.00

Günther Ebenschweiger