16. Juni 2020
Eine berührende und zugleich hoffnungsvolle Geschichte
Es begann – wie so oft – mit einem Anruf einer Schulleitung. In der Schule sei das Gerücht aufgetaucht, dass ein dreizehnjähriges Mädchen von einem erwachsenen Mann außerhalb der Schule „belästigt“ werde.
Die Schulleitung und eine Betreuungslehrerin wollten mit dem Mädchen sprechen, doch das Mädchen sagte: „Ich spreche nur mit Hr. Günther Ebenschweiger!“.
Die Schulleitung kennt mich und daher kam es zum erwähnten Anruf. Drei Tage später – unter Berücksichtigung der beruflichen Situation der Mutter und um das Mädchen und die alleinerziehenden Mutter zu schützen – kam es an einem Nachmittag in der Schule zu einem Gespräch.
Das persönliche Gespräch
Achtsamkeit und Respekt sind zwei elementare Zugänge und so haben wir – wie oben beschrieben – zuerst die berufliche Situation der Mutter, den Schutz der Tochter berücksichtigt und jetzt folgte die zeitliche und räumliche Komponente. Ich meine damit, einen passenden Raum zu finden und die Zeit einzuräumen, die aus der Sicht aller Parteien notwendig ist, Telefone auszuschalten und sonstige Störungen zu vermeiden, um eine gute Gesprächsbasis und das ist das Ziel; Lösungen zu finden.
Nur wenn die Menschen das Gefühl haben, dass sie mir | uns als Menschen mit ihren Bedürfnissen wichtig sind, sind sie auch bereit, über belastende Themen offen zu sprechen.
Als erstes fand ein Gespräch mit Mutter, Tochter und mir statt! Wie immer, stelle ich mich zuerst vor, erkläre meine Arbeit, sage, dass es bei meiner Präventionsarbeit weder Schuld noch Strafe gibt und lege größten Wert auf Beziehungsaufbau und Vertrauen, denn ohne diese beiden Parameter – ich nenne diese „unverzichtbare Readiness-Faktoren“ – sind Lösungen in weite Ferne gerückt. Ich habe die Mutter vorher auch „gebrieft“ und sie gebeten, so wie ich, einfach zuzuhören, nicht zu schimpfen und auf gar keinen Fall ihrer Tochter Vorwürfe zu machen.
Danach versuche ich zu ermutigen, erkläre das Prozedere und verwende dafür – gilt gleichzeitig als guter Tipp an die LeserInnen – drei Fragen: 1. Wie geht es dir | euch?, 2. Was ist passiert bzw. geschehen? Und 3. Wie lösen wir die Situation gemeinsam?
Auf die erste Frage gab es Tränen bei dem Mädchen, denn ja, die Situation und der Kampf sich gegen den Mann zu wehren haben emotionale Spuren hinterlassen.
Bei der zweiten Frage erzählte uns das Mädchen eine einjährige Geschichte, in der der Mann ihr Vertrauen gewinnen wollte – teilweise auch schon hatte – und auch hier ja, es gab sexuelle „Übergriffe“. In solchen Fällen bin ich ganz auf das Zuhören konzentriert, um nicht nur das Wahrzunehmen was gesprochen wird, sondern auch die Gefühle dahinter zu spüren.
Als das Mädchen die Geschichte fertig erzählt hatte, begann es wieder zu weinen und wandte sich überraschend an mich: „Hr. Ebenschweiger, bitte reden Sie bitte mit meinem Opa, denn der hat, als er die Geschichte mit mir erfahren hat, sofort mir die Schuld daran gegeben!“
Ich begann gerade mit den Worten „Du hast keine Schuld …“ als mich das Mädchen unterbrach und sagte „… der Mann ist schuld, denn immer die Person, der Täter oder die Täterin, die es tun, hat Schuld!“ und dabei lächelte mich das Mädchen an.
Mir wurde warm ums Herz, weil dieses Zitat stammt aus unserem Präventionsprogramm „Mein Körper gehört mir“, an dem das Mädchen in der Volksschule vor vier Jahren teilgenommen hatte.
Jetzt fragte ich auch das Mädchen, wie es auf mich gekommen war und das Mädchen sagte: „Ich habe Sie bisher nur auf Fotos im Internet gesehen, aber ich weiß, dass Sie für „Mein Körper gehört mir“ verantwortlich sind und ich habe schon viel Gutes von Ihnen gehört!“
Im nächsten Schritt – und das war auch der Wunsch der kleinen, jungen Familie – wurde die Schulleitung und die Betreuungslehrerin zum Gespräch geholt und der weitere Weg mit „Gefährdungsmeldung“ an die Jugendwohlfahrt und die Anzeige bei der Polizei besprochen.
Die Schulleitung und die Betreuungslehrerin wurden von mir noch gebeten, mit dem Mädchen ein „wording“ zu besprechen, wenn es von anderen SchülerInnen oder auch Erwachsenen auf die Situation angesprochen wird; und sie werden für die alleinerziehende Mutter und das Mädchen weiterhin ein offenes Ohr haben und die beiden unterstützen.
Ein großes Danke!
Der Schulleitung und der Betreuungslehrerin gebührt ein großes Dankeschön für ihre Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Behutsamkeit und das Verantwortungsgefühl im Umgang mit der Situation des Mädchens und der Familie. Hätte man weggeschaut und die Drohungen und die Gewalt des Mannes zugenommen, wäre es sehr schwer geworden, dem Mädchen und seiner Mutter zu helfen; zu groß wäre die Abhängigkeit, das Schamgefühl, und auch die Angst und vor Schuldzuweisungen geworden!
Ich erlebe auch in vielen anderen Kontexten manchmal, dass nach dem Sprichwort „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß!“ die Aufmerksamkeit fehlt oder aus meiner Sicht gleich schlimm, zu rasch und zu wenig achtsam und behutsam zu sein, sofort – aus Angst sonst Vorwürfe zu bekommen, oder um die Verantwortung abzugeben – über die Köpfe von Opfern hinweg Entscheidungen getroffen werden.
Dazu ein kurzes Beispiel:
Eine Betreuungslehrerin eines Gymnasiums ruft mich an und fragt mich: „Ein Schüler hat mir im Vertrauen erzählt, dass in Pausen einige SchülerInnen „Heil Hitler“ rufen. Ich habe den Direktor verständigt und der wollte sofort den Namen des Schülers und dann die Polizei anrufen. Ich befinde mich jetzt in einer Zwickmühle und weiß nicht, was ich tun soll!“
Hier fehlt es am Fingerspitzengefühl, der erforderlichen Aufmerksamkeit und Achtsamkeit durch den Direktor. Ich habe der Pädagogin geraten, die PädagogInnen der Schule zu informieren, sich Zeit zu nehmen, aufmerksam zu sein, um selbst herauszufinden, ob das, was der Schüler ihr im Vertrauen gesagt hat, stimmt.
Wenn sie nämlich den Namen des Schülers der Polizei mitteilen, wird dieser – um sich konkret vor diesen SchülerInnen zu schützen und nicht in der Schule als „Petzer“ dazustehen – sehr wahrscheinlich seine Aussage abschwächen oder gar nichts sagen und damit – so bleibt zu vermuten – wird die Sache im Sand verlaufen. Die Schule hat dann zwar nach außen hin nach wie vor „eine weiße Weste“, der Schulleiter muss sich niemand gegenüber rechtfertigen und braucht auch keine Angst davor zu haben, in den Medien „zerrissen“ zu werden; aber mögliche rechtsradikale oder sogar rechtsextreme Entwicklungen bleiben bestehen!
Meine Hoffnungen!
Zurück zur Geschichte! Ich bin überzeugt, dass die Schule, die Jugendwohlfahrt und die Polizei die Schritte setzen werden, um dieser jungen Familie, ganz besonders dem Mädchen, eine angstfreie Zukunft zu ermöglichen und ich hege auf Grund der vom Mädchen gezeigten Stärke die Hoffnung, dass sie die von ihr und ihre Mutter gemachten einschneidenden Erfahrungen ohne nachhaltigen Schaden überstehen werden.
Ich hoffe aber auch, dass wir – bedingt durch die Krise – „Mein Körper gehört mir“ auch zukünftig anbieten werden können. „Mein Körper gehört mir“ wird vom seit 1999 bestehenden gemeinnützigen Verein „Österreichisches Zentrum für Kriminalprävention“ mit Sitz in Graz seit fast zwanzig Jahren angeboten und wir haben – und darauf sind wir besonders stolz – in diesen zwei Jahrzehnten fast 350.000 Kinder, Eltern und PädagogInnen erreicht.
Durch die Krise mussten wir in diesem Schuljahr knapp 100 Programme absagen, das heißt, in Summe konnten 20.000 Kinder, Eltern und PädagogInnen nicht gestärkt und geschützt werden.
Das Präsidium und die ExpertInnen arbeiten seit 1999 ehrenamtlich und wir bekommen bis heute keine Subventionen vom Bund, offenbar nach dem Motto: „Kinder sind keine politische Größe“!
Trotzdem bleibe ich zuversichtlich und hoffnungsvoll – die Hoffnung stirbt bekanntlich ja zuletzt – und ich werde mich, soweit es meine persönlichen Ressourcen zulassen, weiterhin für Menschen, egal ob jung oder alt, Frau oder Mann, schwarz oder weiß, Ausländer oder Inländer einsetzen, sie unterstützen, sie stärken, sie schützen und sie mit aller Kraft gegen Gewalt, Leid, Unrecht, Rassismus uvm. verteidigen!
Günther Ebenschweiger