30. September 2020

Parallelgesellschaft(en)

Wenn von „Parallelgesellschaft(en)“ die Rede ist, denken vermutlich viele sofort an Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft, auch Muslime und Christen sowie an Inklusion, Exklusion oder auch Marginalisierung.

Ich rede heute von einer Parallelgesellschaft generell in unserer Gesellschaft und – auch wenn das hart klingt – von „Kastenbildung“ zu Ungunsten der – in nenne sie jetzt einfach – „normalen“ Menschen.

Bewogen, diese Zeilen zu schreiben, haben mich mehrere Beispiele aus meiner täglichen „Frontarbeit“ als „First-line practitioner“; zwei habe ich mitgebracht!

Beispiel 1:
Im Rahmen eines Sozial-Trainings kontaktiert mich eine Pädagogin, weil ein 12jähriges Mädchen aus ihrer Klasse wegen Schulangst nicht zum Unterricht kommt (kommen kann). Sie fragt mich – weil ich vor Ort bin – ob ich der Familie bzw. ihr als Pädagogin einen Experten-Tipp geben kann. 

Ich schlage vor – wenn das die Familie und das Mädchen wollen – mit dem Mädchen zu reden. Die Familie ist begeistert, am nächsten Tag holt mich die Pädagogin ab und ich habe die Möglichkeit mit dem Mädchen zu reden. Wir reden etwa 45 Minuten, lernen uns kennen, sie erzählt mir von sich und den Tieren zuhause und ich von Mobbing und wie ich Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen helfe, diesem Alptraum zu entkommen; und wir beide „boxen“ uns mit der Faust mit dem Versprechen, dass wir uns am nächsten Tag in der Schule sehen.

Tatsächlich kommt das Mädchen am nächsten Tag in die Schule; und von Schulangst keine Spur. Was mir aber in Gesprächen auffällt ist ihre Angst vor der für sie unverständlichen Reaktion der anderen SchülerInnen, wenn sie Angstattacken hat. Daher reden die Pädagogin und ich am zweiten Tag mit ihr, ich erkläre ihr meine systemische Mobbing-Intervention, wo es darum geht, die Klasse so zu stärken, dass sie Mobbing verstehen und es nicht mehr zulassen. Ich biete dem Mädchen an, mit ihr und der Klassenlehrerin gemeinsam ihre Situation zu besprechen. Sie stimmt zu und die Klassenlehrerin und ich erklären der Klasse sehr behutsam die Situation des Mädchen und welche Reaktion und Unterstützung wir von den SchülerInnen erwarten; die Erleichterung ist allen ins Gesicht geschrieben!

Beispiel 2:
Ein anderer Fall! 
Ein Mädchen wird real und über soziale Plattformen gemobbt und weder sie noch ihre Mama – der Papa ist beruflich viel unterwegs – haben einen Lösungsansatz. Ich setze mich mit den beiden zusammen und Mama und Tochter weinen immer wieder und sagen und zeigen mir, mit welchen Überforderungen sie täglich zu kämpfen haben. Auch ihnen kann ich – weil ich auch hier vor Ort bin und Vertrauen genieße – helfen, eine(n) ExpertIn zu kontaktieren.

Warum ich das erzähle?
Jeden Tag höre, lese und sehe ich, was alles finanziell in dieser Zeit getan wird. Tatsache ist – und das sagt auch schon ein Sprichwort – das Geld allein nicht glücklich macht und die „normale“ Gesellschaft sehr viel mehr ideelle, psychische, soziale und menschliche Unterstützung brauchen würde; gerade in Zeiten wie jetzt!

Unterstützung und Hilfe für die Herausforderungen und die Bewältigung des Alltags, bei der Erziehung, dem Umgang mit Medien, dem Stress, der Komplexität des Lebens, der Sorgen heute und für die Zukunft uvm. und den daraus folgenden Folgen. 

Was diese beiden Familien und deren Kinder brauchen würden sind pro-aktiv denkende und handelnde ExpertInnen vor Ort, niederschwellig, aufsuchend, unkompliziert ansprechbar, die gleichzeitig Charisma und Vertrauen mitbringen. 

Also weg vom Pragmatismus, weg von der Bürokratie, weg vom Abschieben der Verantwortung und hin zu mehr Menschlichkeit, zu mehr Verständnis, zu mehr Lebendigkeit, Mut und einem pro-aktiven Ansatz für unkomplizierte Lösungsansätze für die „normalen“ Menschen.

  • Solange der Mensch nicht als Mensch mit seinen unglaublich vielen Bedürfnissen verstanden wird, 
  • solange der Mensch nicht in seiner Ganzheit wahrgenommen wird,
  • solange nur geredet und nicht vor Ort kompetent gehandelt wird (werden darf), 
  • solange nur vom Geld und nicht von Lösungsansätzen vor Ort die Rede ist,
  • solange von Schlagzeilen und nicht vor Ort gegen Gewaltformen etwas getan wird,
  • solange es keinen durchdachten „Master-Plan“ für die Hilfen vor Ort gibt und
  • solange die „normalen“ Menschen das Gefühl haben – und das sehe ich als tägliche Realität – es hört ihnen sowieso niemand zu, es zeigt niemand Interesse an ihren alltäglichen Problemen, es kümmert niemand und sie werden mit ihren menschlichen Bedürfnissen und Überforderung nicht ernst genommen –
  • solange wird den „normalen“ Menschen vor Ort nicht die Unterstützung zu Teil, die sie für die Bewältigung ihres Alltags dringend benötigen.

Vor kurzem hat mir ein Freund gesagt:
„Ein Eimer Hilfe vor Ort ist heute wertvoller als Gold“ – und dem schließe ich mich an.

Was die „normalen“ Menschen brauchen ist mehr als nur finanzielle Hilfe, sondern ein „Vor-Ort-Unterstützungs-System“, das sie ermutigt nicht erst zu warten bis ich komme (wenn überhaupt), sondern an das sie sich mit ihren „Alltags-Problemen“ unkompliziert und kostenlosen für einen ersten Faktencheck wenden können und das ihnen dann weiterhilft oder sie sogar begleitet!

Zum Schluss – wie ich meine – noch ein passendes Zitat von Albert Einstein: „Hundertmal am Tag erinnere ich mich daran, dass mein Innen- und Außenleben von den Anstrengungen anderer Menschen – Toten und Lebenden – abhängt, und dass ich mich bemühen muss, in dem Maß zu geben, in dem ich von ihnen bekommen habe und immer noch bekomme.“

Ich würde mir abschließend wünschen, dass EntscheidungsträgerInnen das verstehen und auch so handeln; weg von einem Allgemeinen-, von einem Generellen- zu einem Vor-Ort-Hilfe-Ansatz!

Wer das nicht versteht, den lade ich herzlich zu einem Sozial-Training ein; dann aber bitte das Taschentuch für die Tränen nicht vergessen!

LG
Günther Ebenschweiger