1. Oktober 2020

Die Stille

Eine Erzählung von Paul Reiners – übernommen aus
„experimenta“, 09.2020.

Achtung:
Diese Erzählung von sexuellem Missbrauch ist geeignet Emotionen und Trigger auszulösen!

Die Stille

Und da war diese unendliche Stille, die den Raum ausfüllte und alles umgab. Die drei Männer warteten schon lange Zeit schweigend in ihr. 

Der alte Richter saß ruhig in seinem Sessel, die Arme breit auf den Lehnen. Sie stand schon draußen. Er hatte ihr gesagt, dass sie entscheiden könne, wann es beginnt, und dass sie es jederzeit abbrechen könne. 

Der Mann war sicher, dass er die Frau nicht erkennen würde. Als sie getrennt wurden, war sie noch keine Frau. 

Die beiden anderen Kinder wurden von ihm ferngehalten, und sie fragten auch nicht nach ihm. Man gab ihnen keine Antworten auf nicht gestellte Fragen. Es blieb ihnen überlassen, die Fragen zu ihren Antworten zu stellen, da sie doch jeden Tag wussten, von den Eltern getrennt zu sein.

Der Wind hatte die Wolken vertrieben. Ein Bündel Sonnenstrahlen fiel durchs Fenster ein und reflektierte auf dem hellen Parkett in einer Kaskade von Licht, die zum Wegsehen zwang.

Der Doktor erhob sich. Er ging zu dem großen Fenster und zog die schweren Vorhänge zu. Die Augen erholten sich, das Lichtbündel auf dem Parkett war verschwunden und das Sonnenlicht war hinter dem Vorhang nur noch zu erahnen.  

Dem Mann hatte die Sonne blendend ins Gesicht geschienen. Aber er hätte nichts gesagt, um das zu ändern. Seit Jahren trafen andere die Entscheidungen. Er war der Herrscher über alle und alles gewesen, hatte mit den Kindern tun können, was und wann immer es ihm beliebte. Keiner hatte sich ihm widersetzen können. 

Und dann hatten sie ihn festgenommen und abgeführt. Und hatten ihn von Anfang an ihre Verachtung spüren lassen. So wie die anderen später im Gefängnis, da nicht verborgen bleiben konnte, warum er dort war.  

Für ihn deutlich sichtbar, nicht aber dem darauf blickenden Wärter, rieb der Essensausgeber fein zerstoßenes Glas in seinen Kaffeebecher. Er fand auf seinem Tablett, das ihm durch die Klappe in der Zellentür gereicht wurde, ein mit scharfer Klinge hälftig zerteiltes und wieder zusammengesetztes Brötchen voller Ejakulat. Der Deckel der portionierten Haselnusscreme ward behutsam gelöst und war später ebenso behutsam wieder aufgeklebt worden, nachdem der Inhalt gegen Exkremente ausgetauscht worden war.

Sein Frühstück warf er anfangs direkt nach dem Empfang in den Mülleimer. Später machte er es sich zur Gewohnheit, den Kaffee durch eine der Filtertüten laufen zu lassen, die er zum Kaffeekochen benutzte. Wenn er das Glas derart ausgesiebt hatte, konnte er den Morgenkaffee trinken. Das hielt er lange Zeit so. 

Er gewöhnte sich daran, den morgendlichen Hunger zu verdrängen und aß erst zu Mittag. Dort wurde man in langer Schlange anstehend der Reihe nach von der Essenausgabe versorgt, und dieses Verfahren machte Manipulationen nicht möglich. Um ganz sicherzugehen, war er häufiger aus der Reihe ausgeschert, obwohl er an der Reihe war und schon den Teller zur Ausgabe hingehalten hatte. Wenn er sich dann wieder in die Schlange der Wartenden eingereiht hatte, glaubte er sicher sein zu können, dass man ihm keine Überraschungen würde bereiten können. 

In den Gefängnisgängen wurde er immer häufiger Gegenstand von Rangeleien. Er war das Objekt von Schlägen und Tritten in den Unterleib, und schließlich Opfer eines Angriffs mit einer selbstangefertigten Stichwaffe. Die Gefängnisleitung sah sich nicht mehr in der Lage, seine Sicherheit zu gewährleisten. So überstellte man ihn früher als vorgesehen zur Therapie in die Forensik, in der er nun schon vier Weihnachten verbracht hatte.  

Immer wieder war der Doktor mit ihm sein Leben durchgegangen: Das gestörte Verhältnis zum Vater, dessen Anforderungen er nicht erfüllen konnte; das Scheitern in allen Ausbildungsversuchen; der Beginn der Trinkerei; die Zeit der Obdachlosigkeit; der Kontakt zu der Frau, die ihn bei sich und ihren Kindern aufgenommen hatte. 

Bei ihr war er zur Ruhe gekommen, scheinbar, hatte begonnen, die Dinge zu ordnen, zu entscheiden, und war bald der Entscheider über alles geworden. 

Hatte sich entschieden, machtvoll zu sein, machtvoller, als der Vater es je war. Da war keiner, der wagte, gegen ihn aufzubegehren. Er nahm sich, was er wollte: das Geld, das bei ihm abzuliefern war, die Frau, wann er wollte, und dann nahm er sich die Kinder. 

Er hatte Schaden angerichtet, dessen Ausmaß ihm das Recht zum Leben nahm. Er fand aber den Mut nicht, es zu beenden. Der Kreis hatte sich geschlossen. Vom Opfer war er zum Täter geworden. Das war sein Schicksal, das er sich selbst bereitet hatte. Und nun war es seine Strafe, damit zu leben.

Die Frau war sicher, dass sie ihn erkennen würde, auch wenn sie ihn nun schon lange Zeit nicht gesehen hatte. Er war über ihr gewesen, war in ihr gewesen, war Teil von ihr geworden. Ein Teil, der sich nicht ablösen ließ und den sie für alle Zeit mit sich tragen würde. In vielen Stunden mit der Therapeutin hatte sie gelernt hinzunehmen, dass er ein Teil ihres Lebens war, dass sie Opfer des Mannes war, den Vater zu nennen die Mutter sie gezwungen hatte. 

Sie hatte ihn ins Gefängnis gebracht. War zur Polizei gegangen, als sie das Wimmern des Bruders nicht mehr ertragen konnte. Hatte sich nicht wegschicken lassen von Polizisten, die Wichtigeres zu tun und keine Zeit für eine heulende 13-Jährige hatten. Sie, die all die Jahre geschwiegen hatte, die so stumm geblieben war, wie ihr aufgetragen wurde, war dann doch angehört worden, war ins Reden gekommen, hatte sich erleichtert von all dem, was sie nicht länger ertragen mochte.

Sie war nie mehr nach Hause zurückgekehrt. War erst in einer Einrichtung des Jugendamtes untergebracht worden, und von da an war es das Jugendamt, das über sie entschied. In deren Heime sehnte sie in den nächsten Jahren ihre Volljährigkeit herbei. 

Die Mutter mochte sie nicht sehen, auch wenn die zu Besuch kam. Sie wusste nicht, was sie zuletzt mit ihr geredet hatte an dem Tag, als es sie zur Polizei trieb. Darüber hatte sie jedenfalls nicht mit ihr gesprochen.

Hätte es auch nicht gekonnt, da sie noch gar nicht wusste, wohin sie wollte, als sie aus dem Haus gelaufen war, um das Wimmern des Bruders nicht mehr hören zu müssen. 

Sie hatte sie nicht vermisst abends in der Einrichtung, allein in einem Zimmer, das sie abgeschlossen hatte, obwohl ihr doch nun keine Gefahr mehr drohte. Die Brüder hätte sie gern um sich gehabt, die kleinen Brüder, die sie, die ältere Schwester, nicht hatte schützen können vor dem, was er mit ihnen gemacht hatte. 

Sie hatte durch ihre Aussage die Familie zerstört, hatte ihnen allen das Zuhause genommen. 

Das hatte die Frau lange beschäftigt, viele Jahre mit vielen Tagen und langen Nächten. Erst jetzt und nach vielen Gesprächen mit der Therapeutin war ihr klar geworden, dass sie allesamt Opfer geblieben wären, wenn sie nicht gehandelt hätte. 

Sie hatte ihn von Anfang an sehen wollen, hatte tausend Fragen an ihn, aber die Frau vom Jugendamt ließ sie nicht zu ihm. Es sei nicht gut für sie. Er sitze im Gefängnis und das, was sie mit ihm zu bereden habe, könne nicht dort geschehen. Immer wieder hatte sie gedrängt, dass sie zu ihm wolle, und immer wieder hatte man bestimmt, dass dies nicht gut für sie sei. 

Die Therapeutin hatte gesagt, dass sie tun könne, was sie wolle, wenn sie voll-jährig sei und es dann ihre Entscheidung sei, zu ihm zu gehen. Um sich auf das Gespräch vorzubereiten, solle sie sich einfach vorstellen, sie könne nur eine einzige Frage an ihn richten, oder ihm nur einen einzigen Satz sagen. Das könne ihr helfen, das, was sie bewege, in Worte zu fassen. 

Nun war sie so weit. 

Sie nickte dem Pfleger zu, der vor der Tür stand, und der öffnete ihr mit einer ruhigen Bewegung beide Türen des Raumes, den sie ohne Zögern betrat.

Der Mann saß in der Mitte des Raumes und hatte beide Hände vor sich auf den Tisch gelegt. 

Er sah sie an, stand aber nicht auf. Ruhig ging sie auf ihn zu, blieb eine Schrittlänge vor dem Tisch stehen und sah ihn an. Der Mann sah ihr in die Augen und bewegte sich nicht. 

Als sie sich nach einer endlosen Zeit des Schweigens aufrichtete, von ihm abließ, sich umdrehte und mit festem Schritt zur Tür ging, war alles gesagt. 

Und da war diese unendliche, alles umfassende, wissende Stille.

Autor:
Paul Reiners, geb. 1952; Studium der Sozialarbeit und der Rechtswissenschaften; 34 Jahre hauptamtlicher Bewährungshelfer in Düsseldorf; danach Masterabschluss in Kriminologie und Polizeiwissenschaft; seit 2005 Lehrbeauftragter für Straffälligenhilfe an der Hochschule Niederrhein; seit 2012 freier Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kriminologie an der Uni Bochum. 

Nachzulesen in:

https://experimenta.de/archiv/2020/experimenta-09_20_September_DS.pdf?fbclid=IwAR0VjWM3kWBOtVGvV18AuN4QAxd9lnyBOo5w5D9UM0IzFPpxdxWyWnnmuuk

LG
Günther Ebenschweiger