9. November 2020

Extremismus und Prävention

Viele reden aktuell über den Attentäter, die Extremisten und den Extremismus, aber – und das ist für mich in Österreich nach 35 Jahren aktivem Einsatz mit Prävention nicht weiter verwunderlich – kaum bis gar nicht über Prävention und was es tatsächlich braucht (brauchen würde), um überhaupt Radikalisierungsprozesse zu minimieren oder zu stoppen!

Als Gesellschaft müssen wir uns konkret fragen, …

… erlauben wir dem Extremismus als Abschluss des Radikalisierungsprozesses „der Wut und dem Hass eine Richtung zu geben“ oder

… erlauben wir mit Prävention „der Demokratie, dem Zusammenleben, der Gewaltfreiheit und dem Frieden eine Richtung zu geben …

… und: es ist unsere Entscheidung, wie wir uns als Gesellschaft entwickeln!

Beginnen wir mit Prävention um Opfer zu verhindern bzw. Menschen zu stärken und zu schützen oder warten wir bis zum Worst-Case-Szenario, um dann Extremismus zu beenden!“ 

Radikalisierungsprozesse – auslösende Bedingungen

Ich nehme hier Bezug auf die Arbeit von Prof. Dr. Andreas Beelmann der Schiller-Universität in Jena, Deutschland. 

Das bedeutet, dass aktuelle Konflikte immer im sozialen Kontext zu sehen sind!

Identitätsprobleme

  • Unerfülltes Bedürfnis nach sozialem Anschluss (Anerkennung, positives Selbstbild)
  • Gefühl von Ungerechtigkeit, Ohnmacht und Verunsicherung
  • Wahrnehmung einer tatsächlichen oder gedachten Identitätsbedrohung auf Gruppenebene

Politische oder religiöse Ideologie

  • Annahme bestimmter Werte I Wertsysteme zur Rechtfertigung von Ungleichheit
  • Übernahme geschlossener politischer oder religiöser Ideologien (gegen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte)

Vorurteilsstrukturen

  • Übermäßige Identifikation mit tatsächlicher oder gedachter Bezugsgruppe
  • Übersteigerte Bedeutung einzelner Identitätsmerkmale (z.B. Nationalität, Religion)
  • Abwertung von Angehörigen fremder ethnischer, nationaler, religiöser oder politischer Gruppen

Dissozialität

  • Rechtfertigung von Gewalt oder illegitimen Mitteln zur Durchsetzung von individuellen und kollektiven Interessen
  • Durchsetzung von individuellen und kollektiven Interessen durch Anwendung von Gewalt oder illegitimen Mitteln.

Phänomen- und | oder ideologieübergreifende Prävention

Es gibt mehrere phänomen- und | oder ideologieübergreifende Faktoren:

Stellenwert der Ideologie

Als erste Gemeinsamkeit wird erkennbar, dass Hinwendungen zu extremistischen Strömungen keineswegs immer aus primär ideologischen Motiven erfolgen!

Rechtsextremismus
Zwar haben Jugendliche häufig fremdenfeindliche Orientierungen, aber eher diffuse Weltbilder und wenig Wissen zu politischen Positionen des organisierten Rechtsextremismus!
Islamismus
Neben hochideologisierten Anführern zeigen viele Mitglieder einen (zunächst) geringen Ideologisierungsgrad!

Desintegrations- und Krisenerfahrungen

Als Gemeinsamkeit zeichnen sich (unterschiedlich gelagerte) Desintegrations- und Krisenerfahrungen ab.

Das heißt, eine mangelnde bzw. prekäre Integration in den Bildungs-, Ausbildungs- und Erwerbssektor und daraus resultierende Defizit- und Nichtzugehörigkeitserfahrungen!

Spezifik der Jugendphase

Ein weiteres übergreifendes Charakteristikum ist, dass Hinwendungen zu diesen Strömungen oft während der Adoleszenz (im jugendlichen Alter) erfolgen.

So erfolgt der Einstieg in rechtsextreme Gruppierungen typischerweise mit 13-14 Jahren; für den islamistischen Extremismus wird das Einstiegsalter mit ca. 15-19 Jahren angesetzt!

Relevanz der Gruppe

Plausibles Attraktivitätsmoment ist das Versprechen dieser Gruppen, Teil einer besonders verbundenen Gemeinschaft Gleichgesinnter zu sein!

Mit diesem Motiv korrespondieren Selbstinszenierungen dieser Gruppierungen als „Kameradschaft“ (Rechtsextremismus) bzw. „brotherhood“ | „sisterhood“ (Islamismus)!

Fazit

Erkennbar ist, dass Desintegrations- und Nichtanerkennungserfahrungen phänomenübergreifend in vielen Fällen als biographische Hintergrunderfahrungen präsent sind.

Damit korrespondiert, dass sich das Gemeinschaftsversprechen, die extremistische Gruppierungen ihren Mitgliedern bieten, als ein zentrales Hinwendungsmotiv und Attraktivitätsmoment identifizieren lassen.

Also: wir entscheiden …
… erlauben wir dem Extremismus als Abschluss des Radikalisierungsprozesses „der Wut und dem Hass eine Richtung zu geben“ oder

… erlauben wir mit Prävention „der Demokratie, dem Zusammenleben, der Gewaltfreiheit und dem Frieden eine Richtung zu geben!

LG
Günther Ebenschweiger