3. November 2020

Extremismus – wer ist schuld?

Die Situation ist für mich erschütternd, macht mich traurig, Sehnsucht nach Frieden und Gewaltfreiheit ergreift mich, die Frage nach dem Warum ist präsent und gleichzeitig sind meine Gedanken bei den Opfern, den KollegInnen und der Gesellschaft!

Wer ist schuld?

Nach dem Abklingen des ersten Schocks und der ersten Entrüstung, wird es nicht lange dauern und irgendjemand wird die Frage stellen „Wer ist schuld an dem Anschlag in Wien?“ und ich möchte diese Frage auch gleich beantworten: „Der Terrorist, der Attentäter, der Islamist!“

Was ist zu tun?

Schritt 1

Hier möchte ich mit einem bekannten Spruch beginnen: „Wer das Kleine nicht ehrt, ist des Großen nicht wert!“ und diesen abändern in: „Wer die Prävention nicht ehrt, dem sind die Menschen nichts wert!“

Extremismus – und hier spielt die Ideologie keine Rolle – ist das „Endprodukt“ eines Radikalisierungsprozesses; und dieser Prozess weist viele Facetten auf.

Seit etwa vier Jahren weise ich bei vielen Gesprächen mit VerantwortungsträgerInnen darauf hin, dass phänomen- und ideologieübergreifende Radikalisierungsprävention ein wichtiges Puzzleteil gegen Extremismus ist, weil damit der Radikalisierungsprozess verändert, abgeflacht und | oder sogar unterbunden werden kann.

Dieser Radikalisierungsprozess hängt eng mit der Familie, den Traditionen, der Religion, dem Sozialraum, der Bildung, Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen, der Kultur und auch den Teilnahmebedingungen an der Gesellschaft, z.B. einem Job, zusammen, betrifft damit Kinder, Jugendliche und Erwachsene in ihren Lebenswelten und kann daher nur ressortübergreifend und inter- bzw. multidisziplinär verstanden werden.

Beispiel 1
Bei meinen Workshops zum Thema „Phänomenübergreifende Radikalisierungsprävention“ arbeite ich auch mit Assoziationsübungen, d.h. ich lege Begriffe auf den Boden – beispielsweise Identität, Homosexualität, Männlichkeit … – und die TeilnehmerInnen entscheiden, über welchen Begriff sie sprechen wollen. 

An einer Schule „störte“ einen männlichen Jugendlichen das Wort „Homosexuell“, er stand auf, zückte das Handy und wies darauf hin, dass das laut Koran „haram“ sei! Ich kam mit der Klasse in eine gute Diskussion an dessen Ende die SchülerInnen diesem Schüler sagten: „Wir haben immer schon geahnt, dass das, was du uns immer erzählt hast, gar nicht stimmt!“

Beispiel 2
Ein Workshop mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Ein Mädchen fragt mich, ob die Verhüllung verpflichtend sei. So schnell konnte ich gar nicht antworten, als ein junger Mann aufstand und sagte: „Der Koran gebietet das!“ Ich konnte der Gruppe – so glaube ich zumindest – behutsam erklären, welche Suren davon sprechen und dass es durch die Rechtsschulen verschiedene Zugänge der Gelehrten gibt; und wir haben dabei auch über Demokratie, Partizipation uvm. gesprochen und diskutiert!

Schritt 2
Intensive Förderung des Interreligiösen Dialogs an der Basis

Durch mein Studium an der Donau-Universität Krems ist mir auch bewusst geworden, wie wichtig der interreligiöse Dialog wäre. Wäre deshalb, weil er zwar – aus meiner Sicht nach wie vor zu verhalten – auf ExpertInnen-Ebenen stattfindet, aber praktisch kaum an der Basis, in den Schulen, in den Communitys oder in Diskussionen mit Kindern und Jugendlichen.

Einer der Gründe für dieses Defizit mag sein, dass Dialog zumeist als etwas verstanden wird, wo am Ende herauskommen soll, dass alle das gleiche Denken und Fühlen. Tatsache ist aber, dass Dialog auch immer die Stärke haben muss, Differenzen zu verstehen, anzuerkennen und akzeptieren. Ich habe das so genannt: „Dialog ist durchaus auch die Akzeptanz von Differenz!“

Schritt 3
Professionelle Prävention

Dem „Endprodukt“ Extremismus kann durch ein professionelles, inter- bzw. multidisziplinäres ExpertInnen-Team aus Wissenschaft, Forschung und Praxis insofern begegnet werden, als dieser Radikalisierungsprozess abgeflacht und | oder sogar unterbunden werden kann; nur: das muss jemand auch so wollen!

Und: Damit diese Prävention auch wirksam und nachhaltig bleibt, braucht es eine begleitende wissenschaftliche Evaluation, eine ausreichende finanzielle Absicherung, ein durch die Bundesregierung bestätigtes Wollen und ein ExpertInnen-Team, das auf Augenhöhe kommuniziert und arbeitet.

Schritt 4
Perspektiven

Ich würde mir wünschen, dass wir gemeinsam alles unternehmen, um Extremismus damit als ein Puzzleteil auf allen ideologischen Ebenen bekämpfen.

Für diesen Schritt – das erste Puzzle – „Radikalisierungsprävention“ braucht es Verständnis, Mut, Weitsicht, ressortübergreifende Zusammenarbeit, Professionalität im Sinne einer theoretischen und praxisorientierten Fundierung und Erfahrung und auch den „Glauben“ an das Potential von Prävention.

Ich denke, es ist an der Zeit neue gemeinsame, wirksame und nachhaltige Wege zu beschreiten, um die Österreicherinnen und Österreicher und die Demokratie zu schützen und zu stärken.

LG
Günther Ebenschweiger