27. November 2020

Wenn Prävention schadet!

Im Rahmen des heurigen Präventionskongresses wurde mir wieder einmal die Frage gestellt: „Kann Prävention schaden?“ und diese Frage konnte ich unmittelbar beantworten: „Ja, Prävention kann schaden und schadet auch; vielfach massiv!“

Warum?

Die Gründe sind vielfältig! Ein Hauptgrund allerdings ist die österreichische negierende Haltung zu Prävention und ein großes Wissensdefizit. So weiß kaum jemand, dass es in der Prävention unterschiedliche Ebenen gibt; dass es für die universelle, selektive und indizierte Ebene und für systemische Prävention unterschiedliche Präventionsmaßnahmen gibt. 

Für mich heißt das, dass Interessierte mir zuerst immer ihr „Lernziel“ übermitteln müssen, damit ich mich konkret vorbereiten kann, um positive und nachhaltige Wirkungen bzw. Veränderungen zu erzeugen.

So wie ich – wegen mangelnder Ausbildung – nicht befähigt bin ein Möbelstück zu bauen, nicht befähigt bin eine Heizungsinstallation anzubieten, bin ich auch nicht befähigt jemanden zu operieren oder zu deradikalisieren, weil dazu sind langjährige Ausbildungen erforderlich.

Im Gegensatz dazu fühlen sich in Österreich viele befähigt, präventive Aktionen zu setzen, Projekte und Programme umzusetzen, obwohl sie dafür keine Ausbildungen haben!

Rückblick

Im Jahr 2008 wurde von mir der „1. Österreichische Präventionspreis“ verliehen; das Motto war schlichtweg „Prävention“. Es wurden österreichweit rund 130 Projekte eingereicht; über 100 davon hatten eines gemeinsam: es gab kein „Projektziel“. Ich nahm mit den EinreicherInnen Kontakt auf und die Antworten waren: „Hr. Ebenschweiger, damit machen Sie uns mehr Arbeit, als wir mit dem Projekt selbst haben!“

Das heißt konkret, die ÖsterreicherInnen haben sehr viel Kreativität, sehr viel Engagement, aber wenig bis gar keine Kompetenzen zu Präventionsangeboten, damit diese auch Wirkungen bzw. Veränderungen erzeugen.

Der Schaden

Der Schaden ist ebenso vielfältig, wie die Gründe, die dazu führen. Es beginn zumeist mit einem finanziellen und ideellen Schaden von Organisationen, die im Glauben an die Wirkung von Prävention darauf vertrauen, dass – wenn jemand kommt – sie | er hilft, was verändert uam.; hier kann man sagen: es werden zeitliche, personelle und finanzielle Ressourcen vergeudet!

Schlimmer wird es schon, wenn Menschen – und hier oftmals Kindern und Jugendlichen – durch zu geringe Kompetenzen Schaden zugefügt wird; zwei konkrete Beispiele:

Beispiel 1: Mobbing-Prävention in Schulen

Mobbing und Cybermobbing, die im Grund immer zusammen auftreten, sind phasenorientierte und gruppendynamische Phänomene.

Wenn jetzt jemand kommt, um Mobbing-Prävention umzusetzen, gibt es verschiedene Erwartungshaltungen.

  • Schulleitung und PädagogInnen – ganz besonders die | der KlassenlehrerIn – erwarten sich, dass durch die Prävention das Mobbing beendet, die „Gewalt“ verringert und im Anschluss der Unterricht in dieser Klasse besser wird;
  • die Eltern, sofern sie überhaupt davon wissen, erwarten sich, dass das Mobbing aufhört;
  • das Opfer – oder besser die Opfer, weil es aus meiner Erfahrung sehr oft zwei Kinder oder Jugendliche gibt – erwartet sich, dass das Mobbing beendet wird;
  • die Klasse erwartet sich, dass die MobberInnen – es zumeist ein Viertel der SchülerInnen einer Klasse – aufhören müssen und
  • die MobberInnen erwarten, dass sie ihre asoziale Gewalt werden beenden müssen!

Wenn ich jetzt aber zu wenig Kompetenzen habe – ich verstehe darunter theoretische, aktuelle Ausbildungen, weil die Forschung sehr viel neues Wissen bietet –, zu geringe praktische Erfahrung habe, zu wenig Methodenkompetenzen mitbringe oder überhaupt die falsche Person für einen solchen präventiven Einsatz bin, dann können diese Erwartungshaltungen nicht erfüllt werden.

Was passiert im Sinne von „Schaden“:

  • Die Schulleitung und die PädagogInnen erfahren, dass sich die Situation nicht geändert hat; Zeit, Personen, Finanzen sind vergeudet;
  • schlimm ist es für die Opfer, weil die „erfahren“, dass ihnen nicht geholfen wird und erleiden eine Sekundärviktimisierung; und ziemlich sicher hören solche junge Menschen auf, sich auch in Zukunft Hilfe zu suchen;
  • die Klasse erfährt, dass weder das Opfer, noch die MobberInnen identifiziert werden, dass ihnen, die auch massiv unter dieser Gewalt leiden, nicht geholfen wird und
  • die MobberInnen mit Anhang wissen, dass sie so weitermachen dürfen und werden die „Angriffe“ auf das Opfer verstärken!

Beispiel 2: Radikalisierungsprävention

Noch mehr „Schaden“ richtet eine präventive Maßnahme gegen Radikalisierung an, wenn es nicht ausreichend Kompetenzen dafür gibt.

Ich wurde 2016 – also nach der Flüchtlingssituation – oft gefragt, ob ich nicht auch „Extremismusprävention“ anbiete. Dazu kam damals von mir ein klares NEIN, weil die Kompetenzen dazu schlichtweg fehlten. 

Daher folgten

  1. das Studium „Neosalafistischer Islamismus“
  2. das Studium „Interreligiöser Dialog“
  3. eine Trainerausbildung von ufuq in Berlin zur Prävention gegen Islamismus und
  4. eine Ausbildung durch Prof. Dr. Andrea Beelmann zur Prävention gegen Rechtsextremismus.

Wenn jetzt jemand Radikalisierungsprävention umsetzt, können durch folgende Defizite, Wissensdefizite, Zugänge zur Prävention massive Schäden an der Gesellschaft auftreten.

Prävention ohne Vertrauensaufbau

Grundsätzlich habe ich im ersten Schritt 30 Sekunden Zeit, um Interesse an meiner Arbeit zu wecken und dann maximal nochmals 30 Minuten, um Vertrauen und somit Offenheit zu beginnen.

Wenn ich das nicht mache, weil ich die Kinder und Jugendlichen so sitzen lasse, wie sie sonst auch sitzen, wenn ich vorne als ExpertIn mit Distanz stehe und wenn ich nicht – auch auf die kritischen Fragen und Statements – auf diese Situationen pädagogisch richtig reagiere, ist eine Haltungsänderung bzw. Perspektivenwechsel nicht möglich!

So hat mir einmal ein „Experte“ gesagt, dass er sich nicht auf die kleinen Stühle in einer Volksschulklasse setze, weil er damit seine Kompetenz abgebe, oder „ExpertInnen“ oftmals praktisch nur vortragen und kaum Diskussion zulassen, weil es ihnen eben an Kompetenzen fehlt.

In diesem Fall wirkt Prävention einfach nicht und schadet mehr der auftraggebenden Institution bzw. Organisation!

Prävention gegen eine bestimmte Ideologie

Wenn jemand nur Radikalisierungsprävention gegen den Islamismus anbietet, ergeben sich daraus folgende negative Reaktionen und folgender Schaden:

  1. In einer religiös wie kulturell diversen Klasse | Gruppe wird die Gruppe der MuslimInnen stigmatisiert und – das ist jetzt wirklich schlimm – sie werden sich umso mehr in die eigene Gruppe | Community zurückziehen – wir nennen das Selbstethnisierung – und sind kaum mehr für Prävention erreichbar;
  2. mit diesem Zugang spielen wir den Extremisten voll in die Hände; ein aufgelegter Elfmeter sozusagen. Die | der „ExpertIn“ verhält sich nämlich genau so, wie uns die Extremisten darstellen und damit verstärken wir noch diese Haltung an SchülerInnen mit Radikalisierungstendenzen und bestätigen damit diesen Weg!

Das bedeutet, Radikalisierungsprävention muss phänomen- und ideologieübergreifend sein und muss in der Form der | des ExpertIn im Sinne eines alternativen Narrativs genau das Gegenteil von dem sein, mit dem Extremisten die Jugendlichen ködern!

Mein Appell

Mit diesen beiden Beispielen möchte ich den Appell verknüpfen und mir wünschen, dass auch in Österreich der „Beruf“ Prävention den Stellenwert bekommt, der dieser behutsamen, attraktiven, wirksamen und nachhaltigen Arbeit zur positiven Veränderung, zur Orientierung und für eine wertschätzende Zukunft – wie in den anderen europäischen Ländern – zusteht; oder in Österreich, zustehen würde.

So wie ich am Beginn schon geschrieben habe, braucht es für ein Möbelstück, eine Installation, eine Operation, eine Deradikalisierung, für’s Brotbacken oder Wein produzieren uuu. eine mehrjährige theoretische Ausbildung, letztlich viel praktische Erfahrung und dem persönlichen Touch.

Das braucht es auch für Prävention, denn ohne die theoretischen und praxiologischen Fundierungen, ohne methodisches Wissen und ohne das persönliche Profil, etwas positiv verändern zu wollen, schadet Prävention den Zielgruppen und der Gesellschaft!

LG
Günther Ebenschweiger