31. August 2024
Wenn Kinder an Vernachlässigung leiden
Seit zwei Jahrzehnten bin ich beinahe täglich mit Kindern, Jugendlichen, Pädagog:innen und Eltern im Gespräch und erlebe manchmal echte „Wow-Effekte“; dazu folgendes Beispiel:
Bei einem Training in einer 7. Klasse Gymnasium, stand plötzlich ein Mädchen auf und sagte: „Günther, ich bin die Sprecherin der Mädchen. Wir werden von einem Buben aus dieser Klasse – ich nenne ihn „Martin“ – sexuell belästigt und wir bitten dich, uns zu helfen!“
Wow, das sitzt! Der Klassenvorstand war sichtlich überrascht und wirkte hilflos. Ich bat die ganze Klasse mir einen Brief – auf Wunsch auch anonym – zu den Fragen: „Wie geht es mir?“, „Was ist passiert“, „Wie lange dauert das schon!“ und „Was wünsche ich mir von Martin?“ zu schreiben und alle Schüler:innen nutzen diese Möglichkeit.
Am nächsten Tag beim Gespräch mit der Mutter, mit Martin, dem Klassenvorstand und mir, übergab ich die zusammengefassten anonymisierten Briefe der Mutter. Sie begann zu weinen und erzählte uns von ihrer Überforderung, die letztlich darin mündete, Martin alles zu erlauben, alles durchgehen zu lassen, ihm alles zu kaufen und ihm keine Grenzen zu setzen; nur um ihre Ruhe zu haben.
Die Mädchen wollten nicht, dass Martin von der Schule „fliegt“ und daher machte ich Martin und seiner Mutter den Vorschlag einen Entschuldigungsbrief zu schreiben, den vor der ganzen Klasse vorzulesen und die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen.
Die Klasse nahm die Entschuldigung an, Martin blieb weiter in dieser Klasse und Beobachter:innen der Menschenrechte als Gruppe stärkten und ermutigten die Klasse, keine dissozialen Handlungen mehr zu dulden.
Durch die Unwissenheit, die Unbedachtheit und auch die Überforderung der Eltern sowie durch Haltungen, die keine Grenzen mehr in der Erziehung setzen, leiden mittlerweile sehr viele Kinder an dieser Form der Vernachlässigung.
LG Günther