8. Dezember 2019

Ist Macht- und Informations-Ungleichgewicht mitverantwortlich für immer mehr Gewalt?

Die aktuelle Gewaltsituation unter PartnerInnen, unter Kindern und Jugendlichen und im kulturellen und religiösen Kontext ist besorgniserregend!

Aktuelles Beispiel:
Ein Samstag, um 09:55 Uhr, mein Smartphone „meldet“ sich. Eine Mutter ist dran und sie beginnt: „Herr Ebenschweiger, ich brauche ihre Hilfe. Mein Sohn ist seit Wochen sehr bedrückt, zieht sich immer mehr zurück und trotz Fragen, gab er mir bisher keine Antwort bzw. wich er mir aus. Gestern, am Freitag Abend, ließ ich nicht locker und so erzählte er mir – sehr „widerwillig“ – dass er seit langer Zeit massiv gemobbt wird und endete: „Mama, wenn das nicht aufhört, begehe ich Selbstmord!“

Ich kenne die Schule und ich kenne auch einen sehr engagierten Beratungslehrer, dem ich unmittelbar darauf ein Mail schrieb. Er meldete sich bereits nach einer Stunde und wir legten für Montag eine Strategie fest, die wir auch der Mutter zurückmeldeten.

Am Montag bestätigte dann der Beratungslehrer die Situation und ersuchte mich um ein „Sozial-Training“, das ich bereits zwei Tage später in und mit der Klasse bzw. den SchülerInnen umsetzte. Die Dramatik daran war, dass ein Mädchen dieser Klasse noch mehr gemobbt wurde, als der Bub. Sehr viele Tränen und gleichzeitig sehr viel Erleichterung und Hoffnung für eine gewaltfreie Zukunft, begleiteten uns an diesen Tagen; zwei junge Menschen wurden „gerettet“ und die ganze Klasse gestärkt.

Ich sehe es als meine moralische Pflicht an, in solchen Fällen sofort zu handeln, auch wenn – wie in diesem Fall – die Finanzierung nicht geregelt ist. Das heißt, es braucht teilweise Wochen und Monate, bis sich jemand bereiterklärt ein „Sozial-Training“ zu finanzieren!

Wenn wir für dieses aktuelle „Sozial-Training“ niemand finden, der es – wenn auch nachträglich, finanziert – dann ist es mein Geschenk an die Kinder; und nicht mein erstes und einziges!

Anmerkung: Das ist kein Einzelfall! Seit Jahren bin ich regelmäßig mit solchen dramatischen Gewalt-Themen befasst, Eltern kommen auch immer wieder zu mir nach Hause, weil sie keinen Ausweg sehen; ein Lösungsansatz wurde ihnen bis heute auch von niemandem beigebracht – und das gilt auch für PädagogInnen!

Danke möchte ich an dieser Stelle der Stadt Graz – Hr. Bgm. Mag. Siegfried Nagl und Hr. Stadtrat Kurt Hohensinner für ihre Haltung, kein Kind im Stich zu lassen und unbürokratisch zu helfen und in Kärnten den Kiwanis, die seit über fünf Jahren meine Arbeit in Schulen finanzieren und bei meinem letzten einwöchigen Einsatz bereits beschlossen haben, Prävention auch die kommenden Jahre für die Kinder, Jugendlichen, Eltern und PädagogInnen finanziell zu unterstützen.

Kinder kein politisches Thema?
Ich frage mich jedes Mal, warum sind „Kinder kein politisches Thema?“. Ich verstehe natürlich, dass Gebäude, Infrastruktur, Planstellen uam. wichtig sind. Noch wichtiger sollten den EntscheidungsträgerInnen aber die Kinder und deren Umfeld sein und daher braucht es aus meiner Sicht ein variables, ressortübergreifendes Budget, das in solchen dringenden Fällen beispielsweise von Schulen unbürokratisch und rasch beansprucht werden kann!

Macht-Ungleichgewicht
Gewalt – in diesem Fall massives Mobbing – wird nur in einem „Zwangskontext“ möglich, also in einer Gruppe (Peergroup). Das heißt auch, dass grundsätzlich nicht die Schule als Institution dafür verantwortlich ist, sondern die handelnden Personen in dieser Peergroup. 

Zuerst beginnt zumindest eine Schülerin, ein Schüler in der Testphase jemand in der Gruppe zu finden, die oder der – aus welchen Gründen immer – ein „Macht-Ungleichgewicht“ zur Gruppe aufweist. Dann werden Mitstreiter und Verstärker gesucht – und auch gefunden – und die Testphase geht in die Konsolidierungsphase über; das Mobbing als brutale Gewaltform und als gruppendynamisches Phänomen ist gestartet. 

Der Rest der Klasse – die Zuschauer, Bystander, Ermöglicher – haben alle Angst, selbst Opfer zu werden und alle, inklusive der Opfer schweigen; die Dramatik nimmt ihren Lauf, der seelische, körperliche, kognitive und emotionale Schaden an den Kindern entsteht.

Informations-Ungleichgewicht
Warum Gewalt-Themen – wie z.B. Mobbing aber auch häusliche und sexualisierte Gewalt – nicht rascher aufgezeigt, sondern lange verschwiegen werden, ermöglicht auch das aktuelle Informations-Ungleichgewicht. Berichtet wird sehr gerne – hauptsächlich – über Gewalt- und Bluttaten, Skandale und Fehlverhalten. Das führt zu Ängsten in der Bevölkerung und bei Verantwortlichen.

Ein Beispiel: Bei einem Vortrag vor SeniorInnen wird mir wieder einmal das massive Unsicherheitsgefühl dieser Gruppe bewusst. Also „zücke“ ich die Statistik, die belegt, dass die SeniorInnen statistisch gesehen zur sichersten Bevölkerungsgruppe gehören. Darauf eine Seniorin: „Herr Ebenschweiger, dass sagen Sie ja nur, damit wir uns nicht fürchten!“ Ich argumentiere, dass die Statistik stimmt; darauf ein Senior: „Dann frage ich Sie, warum schreiben bzw. berichten die Medien nicht darüber?“ Das kann ich nicht beantworten und das Unsicherheitsgefühl, insbesondere vor Gewalt, bleibt bestehen!“

Angst vor Vorwürfen und „Zur-Schau“ gestellt werden
Tatsache ist, dass Verantwortliche in Kindergärten, Schulen und auch im Sozial- und Jugendbereich – und das sind nicht die einzigen – Angst davor haben von Überforderungen oder zunehmenden Problemen zu reden, weil es dann in der Berichterstattung nicht um Lösungen, sondern um Vorwürfe, Fehler, Unverständnis, zu wenig Empathie und sehr oft um Skandalisierung von komplexen Situationen geht. Daher hat sich ein Großteil der Bevölkerung einen „Todstellreflex“ angeeignet, um ja nicht medial „Zur-Schau“ gestellt zu werden.

Die Folge ist, dass Gewalt nicht angesprochen und gelöst wird, Opfer bleiben weiter Opfer, erleiden massiven seelischen und körperlichen Schaden, sind zur Ohnmacht verdammt, geben auf und – wie im Fall des Buben „nur“ angekündigt – begehen im schlimmsten Fall Suizid, weil sie keinen Ausweg aus der Gewaltspirale sehen.

Meine große Bitte
Meine große Bitte an die Verantwortlichen der Medien ist – ganz konkret an die RedakteurInnen und JournalistInnen, die ja selbst oft Mamas, Papas, Omas oder Opas sind –, Prävention mitzudenken und neben den vielen Gewalt- und Bluttaten, auch den komplexen Präventions-Ansätzen und -Lösungen ausreichend und regelmäßig Platz einzuräumen und so die Menschen generell und die Verantwortlichen speziell zu ermutigen, darüber zu reden, zu berichten, um gemeinsam Gewalt zu beenden.

Alle, die den Mut haben aufzuzeigen, dass sie Unterstützung brauchen, um die vielen Heraus- und Überforderungen bei Gewalt, Mobbing usw. zu meistern, sollten aus meiner Sicht einen „Orden“ bekommen und als Vorbilder andere stärken, es ihnen gleich zu tun.

Ich bin überzeugt, alle diese Menschen werden es den Medien danken, die darüber wertschätzend, zukunftsorientiert, verantwortungsvoll und regelmäßig berichten!

Günther Ebenschweiger