18. April 2020
Zwei Lebensgeschichten – ein Experiment
Ich erzähle euch zwei Lebensgeschichten, bitte euch um kurze Reflexion und ersuche dann, mir eure Gefühle und Gedanken als Beitrag zu einer Antwort und zu einer Lösung zu posten oder zu schreiben!
Geschichte 1:
Ein besonderer Elternabend von „Mein Körper gehört mir“ an einer Volksschule in Wien. Besonders deshalb, weil 1. (sehr) viele Eltern kommen, 2. viele davon Musliminnen sind 3., weil auch viele Väter anwesend sind.
Ich hebe das deshalb so hervor, weil Elternabende in unserem Kulturkreis zumeist nicht so gut besucht sind und; die Elternabende vielfach „Frauen- bzw. Mütterabende“ sind. Persönlich macht mich das traurig und wütend zugleich, ich sage das dann auch am EA und bekomme von den Müttern die augenzwinkernde „Notlüge“; die Männer müssen heute Kinder schauen.
Zurück nach Wien
Es ist aktiver Elternabend, die Eltern sind interaktiv dabei, interessiert, haben trotz des ernsten Themas sichtlich Spaß, singen mit und stellen uns Dreien – dem Spielerteam vom Österreichischen Zentrum für Kriminalprävention und mir als Leiter und heutigem Moderator – viele Fragen. Nach zwei Stunden endet ein interessanter EA; ich bleibe natürlich auch noch da um Fragen unter „Vier-Augen“ zu beantworten. Ein muslimischer Vater kommt auf mich zu und fragt mich: „Hr. Ebenschweiger, wie kann ich meine Kinder erziehen, wenn ich sie nicht schlagen darf?“
Das Experiment: Jetzt nimm dir ein paar Minuten Zeit
Bitte prüfe jetzt deine Emotionen und denke darüber nach, welche Gedanken dir durch den Kopf gehen!
Wenn ich die Frage dieses muslimischen Vaters in Diskussionen erzähle, passiert folgendes: Sehr rasch wird es emotional und die Aussagen reichen von „das haben wir notwendig!“, „ich hab’s schon immer gewusst, die sind gewalttägig“, „zurück, wo die hergekommen sind“, „ich fürchte mich jetzt schon vor der Zukunft“ uam.
Geschichte 2:
Ich sitze den 2. Tag bei einem Sozial-Training in einer Schule, die Jugendlichen sind 12 und 13 Jahre. Ich konnte zwei massive Mobbing-Opfer identifizieren und bin gerade dabei mit einer systemischen Intervention den beiden Jugendlichen und der Klasse zu helfen, die durch dieses gruppendynamische Phänomen – alle haben Angst, selbst Opfer zu werden – stark emotional betroffen sind. Zusammenfassend könnte ich es als „Vormittag der Tränen“ bezeichnen.
Was mir dabei auffällt ist ein Mädchen, das zwischendurch immer wieder kurz in Weinkrämpfe ausbricht und von Schülerinnen getröstet wird. Ich spreche das Mädchen in der Pause darauf an und biete mit der Klassenlehrerin ein Gespräch nach dem Unterricht an; das Mädchen ist sichtlich froh und stimmt zu.
Alle SchülerInnen sind weg, wir sitzen zu dritt im Klassenzimmer
Das österreichische Mädchen entschuldigt sich bei uns, dass sie uns sowas antut und bricht wieder in Tränen aus. Wir sagen nichts, warten und geben dem Mädchen die Zeit, die es braucht, um sich zu fangen. Jetzt erzählt sich uns, dass ihr Vater, von dem ihre Mutter und sie seit einem halben Jahr getrennt leben, all die Jahre die Mutter und sie geschlagen hat, bedroht hat, mit dem Messer attackiert hat.
Seit ihrem Kindergarten, über die Volksschule bis heute hatte sie jeden Tag „Todesangst“ um sie selbst und auch um ihre Mutter. Wenn sie den Kindergarten oder dann die Schule verlassen hat, wusste sie nie, ob es nicht wieder zu massiven Übergriffen kommt, ob – wie sie sagte – zuhause nicht bereits das Chaos herrscht, oder ihre Mutter noch lebt!
Mehrfach entschuldigt sie sich bei uns, dass sie uns das erzählen muss und quasi „unsere Zeit stiehlt!“
Nach knapp einer Stunde trennen wir uns, die Klassenlehrerin ist genauso geschockt, weil sie das alles nicht wusste und das Mädchen hat unsere beiden Kontaktdaten, falls ihre Mutter, sie oder beide eine(n) GesprächspartnerIn brauchen.
Das Experiment: Jetzt nimm dir ein paar Minuten Zeit
Bitte prüfe jetzt deine Emotionen und denke darüber nach, welche Gedanken dir durch den Kopf gehen!
Diese beiden Geschichten sind nur ein Teil meiner Lebensgeschichte; ich könnte hunderte solche „Erlebnisse“ erzählen. Was mir emotional und auch kognitiv zu schaffen macht, ist, dass sich niemand in Österreich dafür interessiert, solche Lebensgeschichten durch professionelle Präventionsansätze zu verhindern.
Der muslimische Vater hat mir mit der unausgesprochenen Bitte um Hilfe diese Frage gestellt. Wir geben in Österreich dankenswerter Weise Millionen an Euro für Deutschkurse aus, aber wir bräuchten auch Präventions-Schulungen gegen Gewalt in Erziehung, gegen Frauen, gegen die Gesellschaft; und nicht nur bei muslimischen Familien!
Das Mädchen hat von einem jahrelangen Martyrium erzählt. Es ist ein Mythos zu glauben, diese Form der Gewalt komme nur in den unteren gesellschaftlichen Schichten vor. Die wenigsten wissen – oder wollen es wissen – dass 36 Prozent dieser Gewalt in den höchsten gesellschaftlichen Schichten passiert; bei null Prozent Anzeige – daraus ergibt sich diese Verzerrung und; tausende Kinder – auch wenn sie „nur“ Zeugen von Gewalt sind – werden traumatisiert!
Das Experiment: Jetzt nimm dir ein paar Minuten Zeit
Ich versuche seit über drei Jahrzehnten bei den vielen Bundesregierungen zu erreichen, dass wir dazu – wie gerade jetzt bei der Corona–Krise – einen ressortübergreifenden Schulterschluss brauchen und AnsprechpartnerInnen waren und sind für mich die Bundes- und Vizekanzler!
Bitte helfe diesen Familien und Kindern, indem du darüber nachdenkst, wie wir gemeinsam Hand in Hand mit Präventionsaktivitäten häusliche und Gewalt in der Erziehung reduzieren können.
Und jetzt würde ich mir wünschen und mich freuen, wenn du deine Emotionen und Gedanken entweder auf Facebook zu meinem Post veröffentlichst und das „Experiment“ teilst oder mir per Mail – info@aktivpraeventiv.at – schickst!
LG Günther