16. Dezember 2020

Bitte ganz fest die Daumen drücken!

Der gestrige Abend hat mich – obwohl ich mich seit Jahrzehnten mit Gewaltprävention beschäftige – bis ins Mark erschüttert!

Ein junger Mensch hat sich anonym an eine Hotline gewandt und – ich kann es nicht anders sagen – die brutale Lebenssituation nach und nach geschildert. Ich werde jetzt auch nicht mehr schildern, weil die Gesamtsituation wäre durchaus geeignet, schon beim Lesen Opfer zu werden.

Ich finde es sehr mutig, wenn sich Menschen – egal welchen Alters – Hilfe suchen und gleichzeitig sind da Vorsicht vor der Aufdeckung, das Nichtwissen über die Folgen, Ängste über die Zukunft und noch schlimmerer Gewalt, „Misstrauen“ gegenüber den helfenden Personen, der mögliche Verlust der Familie, des sozialen Umfelds, der Tiere, des Zuhauses und der Sicherheit uvm. spürbar.

Das heißt es braucht Sensibilität bei der Kommunikation, Wissen über die Abläufe, eine schier grenzenlose Geduld und natürlich Schutz für die helfenden Personen; und daher wurde ich gestern kontaktiert und wir haben in knapp zwei Stunden beraten, wie wir gemeinsam vorgehen werden.

Warum ich das erzähle?

Weil die, die helfen können – Eltern, FreundInnen, NachbarInnen, das soziale Umfeld, bei Kindern die KindergärtnerInnen und PädagogInnen und die Gemeinden – die BürgermeisterInnen –, nicht vorbereitet werden auf den „Blitzschlag“, der mich trifft, wenn sich mir gegenüber jemand öffnet, nicht gestärkt werden, um das selbst auszuhalten und mitzutragen, weil es keine oder kaum niederschwellige Ansprechpersonen oder -stellen – ich nenne das „Präventionszentren vor Ort“ – dafür gibt.

Durch diesen „Blitzschlag“ wird in Millisekunden mein „Reptiliengehirn“ aktiviert und evolutionsbedingt gibt es jetzt nur mehr zwei Optionen für mich. Einmal, ich glaube diesem Menschen nicht, verniedliche, gebe unpassende Ratschläge oder ich erzähle es anderen, um meine Last zu verringern. 

Im Fall eins hat das Opfer gleich „verloren“ und im Fall zwei wird es sich zurückziehen und das brutale Leben weiter ertragen und daher müssen wir lernen, Geduld zu haben, bis wir wieder rational denken können; das hilft aber auch nur dann, wenn ich die nächsten Schritte kenne und – ganz wichtig – dabei unterstützt werde.

Ein Beispiel aus vergangenen Tagen

Das Telefon klingelt und am anderen Ende ist – der Stimme nach – eine ältere Frau, die sagt: „Hr. Ebenschweiger, Sie sind unsere letzte Rettung“! Es stellt sich heraus, es sind eine Oma und ein Opa und deren zwei Enkelkinder (beides Mädchen im Alter von sieben und neun Jahren) haben den beiden „verklausuliert“ über sexuellen Missbrauch berichtet. 

Oma und Opa haben stellvertretend für ihre Tochter (Mutter) den Elternabend von „Mein Körper gehört mir“ besucht und mich dort kennengelernt. Ihre Tochter ist geschieden und hat einen neuen Freund, der – so die Vermutung der beiden – die beiden Mädchen missbraucht. Die Tochter will davon nichts wissen, daher hat der Sohn und Bruder den Stiefvater angezeigt. Der wird freigesprochen, weil die beiden Mädchen nicht ausgesagt haben; und jetzt komme ich ins Spiel. 

Ich brauche knapp neun Monate, um die Mutter zu „überzeugen“ sich vom Freund und Stiefvater zu trennen. Eine Anzeige kommt auf Grund der gesellschaftlichen Situation nicht in Frage und ich sorge mit meinem Netzwerk dafür, dass die beiden Mädchen – ohne dass das an die Öffentlichkeit dringt – in psychologische Betreuung kommen.

Zurück zum Fall

Ich bitte euch deshalb ganz fest die Daumen zu drücken, damit es gelingt, einerseits diesen jungen Menschen zu ermutigen dran zu bleiben und sich weiter Hilfe zu suchen und andererseits es uns gelingt, so professionell zu sein, um diese brutale Situation zu beenden.

Was ich damit sagen und aufzeigen möchte

Dieses wirklich sehr schlimme Beispiel ist auf alle Fälle von sexualisierter und häuslicher Gewalt anwendbar. 

Die Opfer suchen – zumeist leise, unauffällig, verklausuliert … – natürlich Hilfe, finden aber keine AnsprechpartnerInnen, die erst durch ihr eigenes Starksein in der Lage wären, das auszuhalten – dem Blitzschlag widerstehen – sensibilisiert sind, die Abläufe kennen und somit zu wirklichen Stützen und UnterstützerInnen werden.

Menschen brauchen Bilder

In meinen vielen Jahren habe ich ein Bild entworfen, um das gut zu kommunizieren.

Eine Schlucht mit einer wackeligen und unsicheren Holzbrücke darüber. Die Opfer stehen auf der einen Seite und es sollte gelingen, sie zu ermutigen, über diese Brücke auf die andere Seite zu gehen!

Viele bleiben vor der Schlucht stehen und haben für mich drei Optionen:

  1. Ich bleibe hier stehen und ergebe mich meinem Schicksal, die Optionen – wenn es überhaupt welche gibt – sind begrenzt;
  2. ich springe in die Schlucht und begehe Suizid oder 
  3. ich nehme das Wagnis über diese Brücke zu gehen auf mich, obwohl ich nicht weiß, was mich auf der anderen Seite erwartet. Um diesen Schritt zu wagen, braucht es vorher schon viel Verständnis, Vertrauen, Information und sehr oft – symbolisch gesprochen: jemanden der mich an der Hand nimmt, um gemeinsam die Brücke zu überqueren oder manchmal auch einen Menschen, der mich über diese Brücke trägt.

Entscheidend ist auch, dass am anderen Ende der Schlucht ich als mutiger Mensch nicht alleingelassen werde und für den „Neustart“ die Unterstützung bekomme, die ich brauche!

Ich hoffe, wir schaffen es gemeinsam, diesen jungen Menschen an die Hand zu nehmen und über diese Brücke zu gehen oder diesen jungen Menschen über diese Brücke zu tragen und dafür meine Bitte an euch:

„Drücken wir gemeinsam ganz fest die Daumen, damit uns das gelingt!“

Nach diesem gestrigen intensiven Gespräch habe ich ein riesiges Lob erhalten, über das ich mich sehr gefreut habe und wofür ich mich bedanke! Die TeilnehmerInnen bedankten sich bei mir mit der Aussage: „Bei uns war heute schon das Christkind da!“

LG
Günther Ebenschweiger