31. März 2021
Coronazeit ist Radikalisierungszeit: und keine Prävention weit und breit!
Die Coronazeit ist auch die Zeit des erzwungenen Rückzugs in Online-Welten und die Zeit, in der die Suchprozesse Jugendliche und junge Erwachsene, gestützt von Echokammern und Filterblasen, über den Radikalisierungsprozess direkt in die Arme von Extremisten treibt, die ihre „mundgerechten und passgenauen“ Köder längst ausgelegt haben.
Die Pandemie hat mit ihren verordneten „Schließungen“, dem Homeschooling und den Ausgehverboten zu einem Anstieg des Umgangs, des Austausches, des Suchens und damit der verbrachten Zeit vor dem Computer bzw. im Internet und in Sozialen Medien durch Kinder und Jugendliche geführt.
Was heißt überhaupt Radikalisierung?
In der Regel wird damit ein individueller oder kollektiver Prozess bezeichnet, in dem sich ein Individuum zunehmend vom Werte- und Normensystem einer Gesellschaft distanziert und in dem sich Ausgrenzungs- und Abwertungshaltungen festigen können.
Warum ist die Coronazeit auch Radikalisierungszeit?
Radikalisierung ist, wie bereits erwähnt, ein individueller und | oder kollektiver Prozess. Dieser Prozess findet grundsätzlich in der Realität und in der Virtualität – und online ganz besonders über Social-Media-Kanäle und Chatforen – statt.
Alltägliche Faktoren spielen eine Rolle
Das familiäre Umfeld, Schule, soziale, religiöse, kulturelle Herkunft, Berufsperspektiven, Diskriminierungserfahrungen und auch persönliche Kontakte, Gemeinschaft, Biografie, Frustrationen und Ohnmachtsgefühle, naive Abenteuerlust, Wunsch nach Selbstwirksamkeit und die Propaganda von extremistischen Gruppierungen spielen eine Rolle!
Radikalisierung ist somit ein Prozess als multifaktorielles Phänomen; ein „Bündel von Faktoren“ und beginnt mit legitimen Suchbewegungen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Suchprozesse
Menschen beginnen von klein auf zu suchen; nach Identität, wer bin ich, wo gehöre ich hin, wie kann ich dazugehören, welchen Beruf möchte ich einmal ausüben, wie sieht meine Zukunft aus uvm. Zu diesen Suchprozessen gehört, Fragen zu stellen; an die Familie, das soziale Umfeld, an MultiplikatorInnen und an die Gesellschaft.
Was wir als Gesellschaft allerdings „verlernt“ haben ist, konkrete, klare, verständliche, empathische, reflektierte und auch hinterfragende Antworten zu geben. Viele – die für Antworten und somit auch für die positive Beeinflussung von Radikalisierungsprozessen prädestiniert wären – haben gelernt, gar keine, schwammige oder vielleicht sogar kritische Antworten zu geben.
Der Grund: Sie haben Angst, für konkrete, klare und verständliche Antworten vom Umfeld bis hin zu Medien unreflektiert kritisiert zu werden; und sie haben sogar Existenzängste für solche wichtigen Antworten.
Was passiert?
1. Suchtprozesse werden „gehört“
Kinder, Jugendliche und junge Erwachsenen sind dazu praktisch verdammt, mit der Welt vom Computer aus zu kommunizieren und hier warten schon die Extremisten, die gerne Antworten auf die Suchprozesse parat haben und auch gerne geben. Diese Antworten sind falsch, brutal und letztlich vielleicht sogar tödlich, aber das wissen diese jungen Menschen nicht.
Für sie ist wichtig und entscheidend Antworten zu bekommen, die sie verstehen, die ihre Bedürfnisse befriedigen, ihnen Zugehörigkeit vermitteln, den Selbstwert erhöhen, sie als Teil dieser Gesellschaft akzeptieren, den täglichen Ablauf strukturieren und die ihnen eine gute Zukunft versprechen. Dabei spielt es keine Rolle – weil sie das zu diesem Zeitpunkt oft gar nicht wissen – dass diese Antworten gefakt sind, also nur schwarz-weiß, gut-und-böse, Paradies-und-Hölle, Gutmensch-Schlechtmensch uvm.
2. Selbstethnisierung wird verstärkt
Ich bin überzeugt, dass diese Situation zu einer massiven Selbstethnisierung führt. Selbstethnisierung meint, dass Jugendliche Bestandteile „ihrer“ Kultur oder Religion betonen, dann steht dahinter meist das integrative Bedürfnis, mit den ihnen eigenen Besonderheiten als Teil der Gesellschaft anerkannt zu werden.
Diskriminierungs- und Ausschließungserfahrungen, Rassismus und Mobbing führen nicht selten zu einem überbetonten Rückzug oder verschiedenen Formen von Selbstethnisierung.
Gruppen bieten Jugendlichen mit solchen realen und | oder gefühlten Erfahrungen nicht nur ein Forum und Ventil für ihre Diskriminierungs- und Ungerechtigkeitserfahrungen, sondern geben ihnen zudem das Gefühl, mit ihrer Religion | Politik anerkannt und willkommen zu sein – eben: dazuzugehören!
3. Die politische | religiöse Ideologie kommt ins Spiel
Die Gelegenheitsstrukturen extremistischer Gruppierungen in den Sozialen Medien und Chatforen sind enorm und bewusst auf junge Menschen mit Suchprozessen ausgelegt.
Wenn wir im Radikalisierungsprozess von einem Zusammenspiel von Persönlichkeitsfaktoren und Sozialisationseffekten gesprochen haben, wird es jetzt echt gefährlich. Die Köder der Extremisten sind ausgelegt und junge Menschen schlucken diese Köder und werden jetzt ideologisch instrumentalisiert. Ein Entrinnen ist nicht mehr möglich und wird auch kaum angestrebt, denn das würde bedeuten, wieder in das gefühlte oder reale unbefriedigende Leben zurückzufallen!
Gewalt entsteht; oder besser gesagt: Coronazeit ist jetzt nicht mehr Radikalisierungszeit, sondern Extremismuszeit!
… und keine Prävention weit und breit!
Prävention braucht Professionalität und das bedeutet eine fundierte theoretische Ausbildung, eine – wenn möglich – langjährige Erfahrung in der Praxis und als ExpertIn einen empathischen, pro-aktiven und reflektierten Zugang zu den Zielgruppen.
Ohne diese professionelle Fundierung ist der Aufbau von Vertrauen, der Zugang zu den „suchenden“ jungen Menschen aussichtslos und damit findet mit einem Angebot zu einem alternativen Narrativ auch kein Haltungs- bzw. Perspektivenwechsel und somit zu einer positiven Beeinflussung des Radikalisierungsprozesses statt.
Ich weiß nicht, worauf wir warten, um uns als Gesellschaft vor politischem und religiösem Extremismus zu schützen. Wenn es weitere Verletzte und Tote gibt, ist es auf alle Fälle wieder zu spät!
Günther Ebenschweiger