6. Mai 2022

Verzweifelt, weil Eltern streiten

Eine erste Klasse Mittelschule, ein 4-jähriges Martyrium eines Buben als Mobbingopfer wurde von den Schüler:innen ehrlich und mutig benannt und ich beende am zweiten Tag gerade die systemische Intervention und das Mobbing, das immer mit emotionaler Berührung und Erleichterung einhergehen. Gerade als die große Pause beginnt, kullern Tränen über die Wangen eines 11-jährigen Mädchens und sie bittet mich, mit ihr zu reden. Alle verlassen die Klasse und das weinende Mädchen erzählt: „Meine Mama und mein Papa haben sich viele Jahre gestritten. Heftig gestritten, sich angeschrien und Sachen geworfen und das drei bis vier Mal pro Tag. Ich habe sie immer gebeten nicht zu streiten, aber sie haben nicht auf mich gehört. Anfangs habe ich mir die Ohren zugehalten, später bin ich in mein Zimmer geflüchtet und habe geweint. Sie haben sich getrennt, aber sie streiten nach wie vor jeden Tag am Telefon. Ich halte das nicht mehr aus, ich bin schon sehr verzweifelt, bitte helfen sie mir.“ Wir haben jetzt gemeinsam überlegt, wer ihr in ihrem sozialen Umfeld helfen könnte und letztlich haben wir eine Tante gefunden, die in der Nähe wohnt, zu der sie auch Vertrauen hat und der sie jetzt – so wie mir – ihre Verzweiflung erzählen kann. Ich halte diesem Mädchen die Daumen, dass das klappt. Ich hoffe, dass Mama und Papa jetzt auch verstehen, was sie durch ihre Streitereien bei ihrer Tochter angerichtet haben. Ein Einzelfall? Leider nein. Solche und ähnliche Geschichten über Verzweiflung, Trauer und Hilflosigkeit erfahre ich mittlerweile täglich von Kindern und Jugendlichen und ich frage mich immer wieder, warum Eltern so wenig Rücksicht auf ihre Kinder nehmen.

Liebe Grüße,

Günther