4. November 2022

Wenn Worte versagen

Während eines zweitägigen „Sozialtrainings“ in einem Gymnasium fragt mich plötzlich eine Schülerin, ob ich Zeit für sie habe. Das habe ich immer, allerdings wollte ich noch die Übung fertig machen und daher übernahm die Sozialarbeiterin meine Rolle und ging mit dem Mädchen aus der Klasse. Als die beiden zurückkamen, bemerkte ich Tränen in den Augen des Mädchens – es hatte erzählt: „Ich habe mir gestern ganz fest vorgenommen, Herr Ebenschweiger, über die jahrelange Gewalt meiner Eltern an mir und an meinen Geschwistern zu erzählen, Ihnen meine Verletzungen zu zeigen und Sie um Hilfe zu bitten!“ – sie hat ein unglaublich tragisches von Gewalt geprägtes Kinderleben geschildert. Die Geschwister wurden noch am gleichen Tag fremd untergebracht. In der Schule herrschte tiefe Trauer und Anteilnahme – aber auch Dankbarkeit für meine systemische Mobbing- und Gewaltprävention. Seit über drei Jahrzehnten versuche ich österreichische Politiker:innen zu motivieren und zu ermutigen, mit Gewaltprävention jungen und erwachsenen Menschen viel Leid durch Gewalt zu ersparen; meine Apelle haben versagt. Ich stelle mir daher täglich die Frage, welche Eskalationsstufe von Gewalt bzw. von nicht mehr ertragbarem Leid, Politiker:innen in Österreich brauchen, um endlich aktiv, menschlich, verständnisvoll, aufmerksam, wertschätzend, interessiert und hilfsbereit zu werden?

Liebe Grüße,

Günther