11. Dezember 2020

Suchprozesse und Extremismus

Wenn Fragen von uns nicht beantwortet werden, kommen andere und tun es; mit gravierenden und nachhaltigen Auswirkungen auf unsere Gesellschaft!

Die vorige Woche war StudentInnen und der Radikalisierungsprävention gewidmet und ich habe Radikalisierung als phänomen- und ideologieübergreifenden Prozess erklärt und Präventionsansätze auf der universellen, selektiven und indizierten Präventions-Ebene vermittelt. 

Die StudentInnen waren sehr interessiert und offen, um möglichst viel über die verschiedenen Präventionsansätze zu erfahren. Gleichzeitig wurde von ihnen auch klar kommuniziert, dass sie weder in der Schule, noch über das Lehramt etwas über Radikalisierung erfahren und ihr Wissen und Verständnis aus 2. Hand oder über die Medien hätten. Auf eine Skala von 1 bis 10 wäre ihr Wissens- und Erfahrungsstand etwa zwischen 2 und 3!

Radikalisierung und Suchprozesse

Der Radikalisierungsprozess ist ganz stark von Suchprozessen Jugendlicher und junger Erwachsener geprägt, denn der gesellschaftliche Wandel bedingt eine strukturell veränderte nachschulische Lebensphase. Die konventionellen Übergänge zwischen Schule, Ausbildung und Beruf funktionieren nicht mehr reibungslos und ein guter Bildungsabschluss ist heute kein Garant mehr für einen sicheren Berufsstatus.

Jugendlichen werden in einer immer komplexeren und global agierenden Individual- und Medien-Gesellschaft, Orientierungs- und Suchprozesse aufgebürdet, die nicht mehr nur unter die klassischen Entwicklungsaufgaben der Jugend fallen. Das heißt, sie müssen neben persönlichkeitsorientierten Entwicklungsfragen gleichzeitig auch soziale, familiäre und zukunftsweisende Existenzfragen bewältigen.

Multifaktorielle Gründe begünstigen Radikalisierungsprozesse

Damit Jugendliche und auch junge Erwachsene den Radikalisierungsprozess mit einem Schritt zum Extremismus „abschließen“, müssen viele phänomen- und ideologieübergreifende Faktoren zusammenkommen. Hauptmotive sind gewaltbezogene Erziehungs- und Familienbezüge, Diskriminierungs-, Ausschließungs- und Frustrationserfahrungen und auch solche Faktoren, die Eltern und Großeltern erfahren haben, die sie jetzt auf ihre Kinder bewusst oder unbewusst übertragen.

Wer ist denn besonders anfällig, sich zu radikalisieren?

Zum großen Teil sind es junge Menschen mit niedrigen oder keinen Bildungsabschlüssen, denen es auch oft an Perspektiven fehlt, sich ein eigenes Leben aufzubauen; allerdings führt keiner dieser Faktoren für sich allein dazu, dass man sich Extremisten anschließt. 

Nicht verstandene Religion und Politik sind dabei quasi nur der Rahmen und eine Rechtfertigung dafür, der Wut und Aggressivität, die sich aufgestaut haben, ein Ventil zu geben.

Wie kann man Jugendliche davon abhalten, Extremisten zu werden?

Jugendliche wollen (brauchen) Aufmerksamkeit und geraten gerade deshalb im Rahmen dieser Suchprozesse on- wie offline an Extremisten, weil sie herausfinden wollen: „Wer bin ich, was ist meine Identität, wo gehöre ich hin und dazu, wo will ich hin im Leben und vieles mehr. Das sind zunächst normale Prozesse, in denen sie dann auf die falschen Leute und ihre „falschen“ Antworten treffen. 

Ganzheitlicher und wirkmächtiger Präventions-Ansatz

Diese Radikalisierungsprozesse kann man mit einem ganzheitlichen Ansatz auf unterschiedlichen Präventionsebenen verändern, reduzieren und sogar stoppen und das gilt für alle Formen religiöser und politischer Ideologien.

Prävention ist genau hier besonders wirkmächtig! Mit diesem ganzheitlichen Veränderungsansatz werden Jugendliche und junge Erwachsene gegen die extremistischen „Einflüsterer“ sensibilisier und aufgeklärt. Diese Maßnahmen sind überall dort einsetzbar, wo Jugendliche erreichbar sind – also in der Schule, in Jugendeinrichtungen, in den sozialen Medien …, um gegen einfache, schwarz-weiße Welt- und Feindbilder gestärkt zu werden.

Die Gesellschaft muss Jugendlichen und jungen Erwachsenen – insbesondere solchen mit Ausgrenzungs-, Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen – bei ihren Suchprozessen mehr Raum und Gelegenheiten geben, um auf ihre Fragen zu Identität, Zugehörigkeiten, zur Religion und zur Politik auch „richtige“, verständliche und authentische Antworten zu erhalten. 

Wenn wir als Gesellschaft diese Fragen gar nicht, nur sehr schwammig und oberflächlich, oder pädagogisch unpassend beantworten, dann kommen andere und geben diesen jungen Menschen Antworten; die sie verstehen, die ihr Leben vereinfachen, die sie aufwerten, die sie „einfangen“ und die letztlich den Radikalisierungsprozess mit einem Schritt zum Extremismus abschließen!

Um Radikalisierungsprozesse zu beeinflussen und letztlich den Schritt zum Extremismus zu verhindern, braucht es daher ein Verständnis für die Lebenswelten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, für Prävention und – im Sinne einer nachhaltigen und wirksamen Veränderung – einen ganzheitlichen, interdisziplinären und ressortübergreifenden Ansatz.

LG
Günther Ebenschweiger